Bitte sei still…

ClausAllgemein

In Texten, Tönen und Bildern droht unsere Zeit sich zu verlieren. Sinne werden zerrieben durch den ununterbrochenen Schwall der Worte und den Sog der audiovisuellen Berieselungs- und Narkotisierungsmaschinen. Das tiefe Hören ist zu einem nahezu vergessenen Kulturgut geworden. Tiefes, rechtes Hören erfordert die sensible Offenheit aller Sinne. Rainer Maria Rilke drückt das in einem seiner letzten Gedichte so unvergleichlich aus:

„Das Leiseste darf ihnen nicht entgehen,
sie müssen jenen Ausschlagswinkel sehen,
zu dem der Zeiger sich kaum merklich rührt,
und müssen gleichsam mit den Augenlidern
des leichten Falters Flügelschlag erwidern,
und müssen spüren, was die Blume spürt.“

So geht es also nicht bloß um Nicht-Sprechen als einem äußeren Still-Sein. Vielmehr beruht gesammeltes Hören auf gesammeltem Schweigen. Und dies meint nicht nur das Verstummen der nach außen gerichteten Worte. Vielmehr schweigen auch das innere Mitsprechen und Mitargumentieren, während das Du seine Worte formuliert bzw. seinen Ausdruck sucht oder gar darum ringt. Solches Schweigen sagt ja zum anderen. In ihm ereignet sich das Hören mit der Seele. Es gibt der Rede erst ihren Sinn und ermöglicht dem Wort oder Ausdruck des Gegenübers das Gewicht, welches ihm zusteht. Nun entfaltet sich schöpferische Energie. Sie ermöglicht den, dem wir zuhören, und sie ermöglicht zugleich mich, den Hörenden, selbst. In der Tiefe des Hörens entsteht in uns der Raum, der das ins Werden bringt, was ansonsten blockiert bliebe. In ihm entbieten wir dem Du unseren Respekt, nehmen es an und schaffen jenseits aller Rollen und Befindlichkeiten eine Verbundenheit in der Situation. Hören lebt vom Loslassen, von der Freigabe der Erwartungen, der Wünsche, der Hoffnungen, der Urteile und der Vermutungen. Dann schwingen die ansonsten zugedeckten feinen Nuancen im Feld der Wahrnehmung. Dies bezieht sich nun nicht nur auf das menschliche Gegenüber. Dem Leben an sich in seinen vielfältigsten Ausdrucksformen sollten wir so begegnen – also auch dem Du von Fauna und Flora, dem Du in mir als der Regung der Seele und schließlich vor allem auch dem göttlichen und geistigen Du.
Tiefes Hören, wahrhaftes Zuhören, entschleunigt Kommunikation und erleichtert damit Präsenz und Reflexion. Stille hilft dabei. Sie entzieht dem Sprechen seine Allgewalt. In ihrem Schutzraum können die Kommunizierenden ihre eigenen inneren Stimmen vernehmen und Sensibilität für die der anderen entwickeln. Bewusst gewählte Stille zwischen den Worten unterbricht den Fluss von Rede und Gegenrede. Sie bereitet immer wieder darauf vor, erneut in Tiefe zu hören.
Wir schreiben das Pfingstwochenende. Es ist das Fest des Geistes, den man den heiligen nennt. In christlichen Gottesdiensten wird er beschworen, erbeten, erbetet. Doch wie soll uns etwas berühren, wenn wir erfüllt und unsere Wahrnehmungen zugestellt sind mit unseren Gedanken und dem ununterbrochenen Strom der Worte und der Rituale? Deswegen gilt auch für den geistigen/geistlichen Raum: Stille, Hören, das nach innen Lauschen und Spiritualität können nicht nur nicht voneinander getrennt werden; nein, sie sind symbiotisch aufeinander verwiesen! Und so möchte man manchmal in den Messen und Gottesdiensten, die in diesen Tagen die Kirchen mehr oder weniger füllen, zu den Liturgen rufen: „Bitte, sei einen Moment lang still…Gib dem Geist eine Chance…“

Aus der Stille schließlich erwächst das autoritative Wort in neuem Glanz. Noch einmal Rainer Maria Rilke:

„Schweigen. Wer inniger schwieg,
rührt an die Wurzel der Rede.
Einmal wird ihm dann jede
erwachsene Silbe zum Sieg.“