Letzte Freiheit

ClausAllgemein

Der Tod – letzte Bastion der Freiheit

Auf der gegenwärtigen Evolutionsstufe stehen wir zwischen der Anhaftung im Diesseits und dem Sehnsuchtsdrang, der in die Überschreitung führen will. Als Kinder der Erde und der Geschichtlichkeit sind wir dem Vorübergehenden ausgeliefert und immer im Angesicht der grundsätzlichen Vergänglichkeit, die alles beherrscht. Als Transzendenzwesen strecken wir uns demgegenüber in das Unbedingte, in die zeitlose Energie des Absoluten, dem wir entstammen. So schwingt der Mensch zwischen Alpha und Omega. Sein Platz ist die Bewegung, seine einzige Identität der Fluss von Potentialität und Vergänglichkeit. Diese Identität hat keinen festen Ort und keine feste Zeit und schon gar kein statisches Bewusstsein ihrer selbst. Wir können sie nicht haben, nicht an Dingen festmachen oder an zeitbedingten Normen und Urteilen. Was bleibt dann? Es bleibt die Identitätskrise als Identität. Diese Krise schließt vor allem immer das Bewusstsein des Todes als letzter Freiheit mit ein. Er steht als unübersehbares Zeichen für die Vergänglichkeit und doch setzt er zugleich die Zeit, die sich im Bewusstsein der Menschen vor ihm windet, außer Kraft und überwindet sie.

Unsere allein an das Gegenwärtige, das Sichtbare und das Immanente gebundene Kultur negiert den Tod. Sie meint zu haben, grenzt sich damit ab und muss verteidigen. Der Grunddefekt, den die Anbetung des Endlichen in sich trägt, liegt darin, es absolut zu setzen. Sie konstruiert damit eine ganz eigene Vorstellung von Ewigkeit, die sich daraus nährt, dass es anscheinend immer weiter geht und immer besser wird und ansehnlicher. Wie im Fortschrittsglauben der Moderne und Postmoderne wird das epochale Ende nicht mitbedacht, werden der Verfall und der Tod überspielt. Entsprechend prägend sind die Muster der Verdrängung, individuell und kollektiv. Diese Verdrängung ist zu einem mächtigen kollektiven Schatten geworden, was etwa dazu führt, dass wir uns ökologisch so verhalten, als wären wir unsterblich und unsere Nachkommen nicht vorhanden. So wird das ganze Lebensnetz gestört, wird oft künstlich verlängert, was abgelaufen ist, wird die Kraft entzogen, die dem Neuen, das kommen will, fehlt. Wer den Tod nicht auch als Lebensbewahrer sieht, kann das Leben nie verstehen.

Auch das Verständnis des Todes als finalem Unheil wuchs, menschheitsgeschichtlich betrachtet, mit der Herausbildung des Individualismus. Das Heraustrennen einer Lebensexistenz aus dem Netzwerk des universellen Seins gibt dem einzelnen Leben in der subjektiven Empfindung eine absolute Bedeutung. Der Tod steht für das definitive Ende. Allenfalls bleibt die Hoffnung auf ein Fortleben nach dem Tode. Doch dieses ist wiederum auch nur individualistisch gedacht. Erst mit dem Wandel vom Ich-Bewusstsein zu einem Bewusstsein universaler Verbundenheit kann das Verständnis vom Tod dieser grotesken Verkürzung entrinnen. Nun steht der Tod als Ende einer Wegstrecke, nicht aber des Weges selbst; er steht als Fortfall realer Grenzen und das Eintauchen in neue Seins- und Bewusstseinsströme. Er verbildlicht aber auch die nackte Notwendigkeit, Platz zu schaffen für neues personenhaftes Leben. Lernen, vom Ende einer Wegstrecke, vom Tode als Transformation her zu denken, befreit nicht nur ein Stück aus der fixierten und versklavten Zeit; es entfesselt auch die lächerliche Parodie von Ewigkeit, die sich in den Phänomenen der Zeitlichkeit erschöpft.

Die Wegstation des Todes stellt jeden Augenblick des Lebens in ein besonderes Licht und konfrontiert ihn mit spezifischen Herausforderungen. Der Tod lehrt aber auch, konsequent den Abschied auf nahezu alles hin zu leben, ja ihm, wie Rilke es formuliert hat, immer voran zu sein. Dann kann die bewusste Vorwegnahme dem Abschied das Bittere und Zwingende nehmen und ihn gar zu etwas Befreiendem machen, wenn er eintritt.

Das Leben bei allem Genuss des Moments auch als Abschied zu leben, nimmt der Welt viel an Macht über den Menschen. Er tritt in Distanz, ohne an Intensität zu verlieren, ja, gewinnt sie doch eigentlich erst im Horizont eines jederzeit möglichen und wahrscheinlichen Verlustes. Dazu gehört die Haltung des Abstands sich selber gegenüber, den Gewohnheiten und Erwartungen, den Ängsten und Obsessionen. Im Zulassen des Ungewissen und in der immer wiederkehrenden und sich immer wieder neu und anders ausdrückenden Bereitschaft zur Selbstaufgabe und Selbsthingabe zeigt sich die jeden Tod überstrahlende Freiheit. Es ist dieses Zulassen, das den Menschen in die fortwährende Nähe zum göttlichen Bereich rückt und damit in ein Feld, das keinen Endpunkt kennt. Der aus dieser Nähe sich ergebende Drang und die in dieser Nähe wach gehaltene Sehnsucht nach dem Unbedingten und Absoluten sind selbst absolut. Sie können nicht verlöschen wie ein kleines Glück.

Im Abschied leben, das Sterben zuzulassen und dem Tod als Weggefährten zu begegnen meint nicht, der Welt und den sie bewohnenden Wesen gleichgültig gegenüberzutreten. Abschiede, und schon gar, wenn es sich um das körperliche Sterben geliebter Menschen handelt, können von der Bewältigung in der Trauer nicht getrennt gesehen werden. Trauer wartet als das Gegenüber einer jeden Bindung, gehört zur Wahrscheinlichkeit einer jeden Liebe. Sie steht als Preis dafür, lieben zu können und zu dürfen, und wir sind sie dem Gehenden und Gegangenen schuldig. Genau wie uns selbst.

Die Trauer bedarf keiner festen Zeiten, und sie bedarf keiner festen Orte, auch wenn beides wichtige Stützen im Alltag sein können. Doch in erster Linie zeigt sich in der Trauer eine innere Haltung dem Abschied gegenüber. Der Tod und die Trauer stehen als letzte Bastionen der Freiheit im Diesseits und als Tore in den Raum des Unsterblichen.