Brüche, Sprünge, Schübe…

ClausAllgemein

Brüche, Sprünge, Schübe

Das Zeitalter, in dem wir noch immer leben, wird auch als das mentale oder rationale bezeichnet. Dessen Ursprünge reichen weit zurück. Spuren finden wir bereits in den Schriften der antiken Denker. Ein erster Durchbruch vollzieht sich in Scholastik und Renaissance, die Gipfelzeit bescheren Aufklärung und industrielle Moderne. Jetzt begibt sich der Mensch in die narzisstische Bespiegelung seiner geistigen Kräfte und setzt sich zum Maß aller Dinge. Er denkt die Welt, er denkt sich selbst. Er misst, vergleicht, unterscheidet, unterteilt und entfernt sich in Riesenschritten von der nun zum Objekt degradierten Um- und Mitwelt. Mythische Vorstellungen und gleichnishafte Erzählungen über die Frage nach dem Woher und dem Wohin unserer Gattung werden durch formale und abstrakte Begriffe ersetzt, der Mythos selbst Stück um Stück zerschlagen und entzaubert. Nur der Mensch selbst bleibt endlich noch übrig, als Frage und Antwort zugleich. Ganz auf sich selbst bezogen, anthropozentrisch also werden sein Denken, sein Fühlen und sein Handeln. Gewiss, noch ist das Göttliche nicht vollständig eliminiert, aber der mentale und rationale Mensch hat ihm einen Platz zugewiesen: Heraus aus der Welt, heraus aus dem Erklärbaren, heraus aus dem Äußeren – hinein in die Verinnerlichung. Draußen erwachsen derweil neue Götter, in Gestalt der geistigen und materielle Dinge, die wir hervorgebracht haben. Sie erhalten nun mehr und mehr Zuwendung auf allen Seinsebenen. Sie durchdringen gar die Sehnsuchtsregungen und machen auch vor dem Herzen nicht halt.

Wir kennen die verheerenden Folgen dieses Bewusstseins, bis in die Ausbeutung, das Zerreißen und Ausbluten hinein, unter dem die Gegenwart leidet. Gleichzeitig begegnet uns hier aber auch die Phase höchster menschlicher Kreativität, grandioser Erfindungen und Entwicklungen und einer Wissenschaft, die den rationalen Geist in außerordentliche Höhen führte. Im mentalen Bewusstsein stehen sich somit Effizienz als ins unermessliche gesteigerte Potentialität und Defizienz als Spaltung und Zerstörung gegenüber. Das Ausmaß der Destruktion wurde allerdings erst in der jüngeren Zeit ersichtlich. An der Wegstrecke dieses stürmischen Aufstiegs, der bis an den Abgrund führte, liegt schließlich noch ein besonders hoher Preis: Vereinzelung und wachsende Einsamkeit.
Jean Gebser, dem wir die Unterteilung in menschliche Entwicklungszeitalter verdanken, wies in seiner kulturanthropologischen Analyse über „Ursprung und Gegenwart“ allerdings auch auf jenen Entwicklungssprung hin, der aus der Sackgasse des vom mentalen Bewusstsein geprägten Zeitalters zu führen vermag. Er gab ihm den Namen integrales Bewusstsein. Für dessen Beginn gibt es bereits zahlreiche Hinweise und Anzeichen, die sich quasi täglich mehren.

Im integralen Bewusstsein fallen mit der Überwindung dualistischen Denkens und geistiger Engführungen die Trennungen, die das Leben spaltete. Dogmen, Ismen und kategoriale Lehrgebäude verlieren ihren Wahrheitsanspruch. An die Stelle von Entweder – Oder tritt das Sowohl – Als auch. Unterschiedlichkeit will in der Schwebe gehalten werden. Die Ganzheit wird sichtbar und erlebbar – und zwar als Erkenntnis, Sinnhaftigkeit, Sinnlichkeit und Transzendenzbezug zugleich. Die Wirklichkeit tritt, wie Physik und Biologie es seit Jahrzehnten lehren, als dynamischer und fließender Prozess in die Wahrnehmung, in die Erfahrung und damit in das Bewusstsein. Existentielle Trennungen sind in ihr nicht mehr auffindbar, vielmehr zeigt sich alles als mit allem verbunden. Schrittweise vermag sich so die anthropozentrische, ethnozentrische und egozentrische Weltsicht zugunsten einer kosmozentrischen aufzulösen.

Dieser Schritt kann unsere Gattung auf eine neue Weise zu sich selbst führen. Viel integrative Erinnerungsarbeit ist dafür vonnöten, um in aller Tiefe zu verstehen, wie wir wurden, was wir gegenwärtig sind. Ohne ein systemisches Gesamtverständnis nämlich, das auf einer Einsicht in die geistige, kulturelle, gesellschaftliche und ökologische Gewordenheit gründet, finden wir zu keiner neuen inneren Ordnung. Der Neuentwurf setzt die Dekonstruktion der alten Bewusstseinslinien voraus. Dabei sollte die Verdrängung ein Ende haben, genau wie die Feigheit, die verhindern will, uns auch dort ins Antlitz zu sehen, wo uns eine Fratze erwartet.

Die Gerichtetheit und Zielstrebigkeit der menschlichen Entwicklung zu erkennen, sollte nicht zu dem Fehlschluss leiten, Entwicklung verlaufe kontinuierlich. Sie vollzieht sich vielmehr in Sprüngen, Schüben. Und sie weist „rückläufige“ geschichtliche Phasen und Brüche auf, die sich in Kriegen, der Herrschaft politischer, ökonomischer oder religiöser Ideologien und der Herrschaft totalitärer Systeme zeigen. Doch gerade das, was zunächst als rückläufig erscheint und vorübergehend auch so wirkt, widerspricht auf Dauer gesehen nicht der grundsätzlichen evolutionären Linie. Denn Widerstand gegen jegliche Formen von Unterdrückung ist zum einen früher oder später sicher, und zum anderen verleihen die damit verbundenen Neuorientierungen dem evolutionären Muster oft zugleich einen entscheidenden Schwung. Der Bruch der Kontinuität sowie Phasen von Stillstand, Verhärtung, Reaktion, Chaos und Neuorientierung also sind es gerade, die das zeichnen, was wir eine evolutionäre Linie nennen.

Es gab schon immer Menschen, die auf dem Weg zum integralen Sein der Menschheit weit voraus waren und ihnen Beispiel gaben. Im 20. Jahrhundert war dies für mich an außerordentlicher Stelle und in außerordentlicher Weise Albert Schweitzer. Über ihn geht der Blog in der kommenden Woche…