Mystiker, Diener und Prophet des Lebens

ClausAllgemein

Mystiker, Diener und Prophet des Lebens

Menschen können wie Sterne sein. In deiner dunklen Nacht und deiner Suche nach Orientierung leuchten sie und weisen den Weg. Du kannst dich auf den Stern verlassen, doch zugleich weißt du, dass du ihn niemals wirst erreichen können. Ein solcher Stern war und ist Albert Schweitzer (1875-1965) – ein Licht, das nicht verglüht, ein Mahner und Prophet für diese Welt am Abgrund.

Die Idee der „Ehrfurcht vor dem Leben“ war für den Mann, den Albert Einstein für den größten Menschen des Jahrhunderts hielt und den Winston Churchill „ein Genie der Menschlichkeit“ taufte, die Spätblüte eines Astes der Lehre Jesu von der Liebe. In „Kultur und Ethik“ formuliert er zu dieser Ethik: „Das Wesen des Guten ist: Leben erhalten, Leben fördern, Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Das Wesen des Bösen ist: Leben vernichten, Leben schädigen, Leben in seiner Entwicklung hemmen … Jedes Leben ist heilig.“ Zu dieser Einsicht führen uns Denken und Erkennen. Die Liebeskräfte des Herzens finden zur Grundlegung des Ethischen also erst in der Notwendigkeit, sich denkend mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen und dabei auch die „Ehrfurcht vor der Wahrheit“ über alles zu stellen. „Ethisch werden heißt wahrhaft denkend werden.“

Das Leben Schweitzers ist ein Aufschrei gegen die „Gedankenlosigkeit unserer Zeit“, die er bereits in seinen Tagen beklagte. Zwar können wir nach seiner Einsicht nicht den letzten Sinn des Universums erkennen – denn hier greifen aus dem Blickwinkel des Menschen Sinnvolles und Sinnloses unverstanden ineinander. Aber das Leben können wir erkennen und verstehen und vor allem den universalen Charakter des Lebenswillens.

Als erster westlicher Ethiker identifiziert und markiert er dabei die Grundschwäche aller bisherigen Ethik, nämlich dass sie allein vom Menschen her kommend sich allein auf ihn auch nur bezog. Mit seiner Idee der Ehrfurcht vor dem Leben weitet er diese Engführung auf alles Lebendige hin entscheidend aus. Es entsteht eine Humanitätspflicht hinsichtlich aller Geschöpfe. Der Urwaldarzt aus Lambarene, Leben-Jesu-Forscher und begnadete Bachkenner und Bachinterpret blieb dabei fern einer sentimentalen Naturverklärung. Er erkannte und durchschaute die uns überall begegnende „Selbstentzweiung des Lebens“, das „grausige Schauspiel“, dass Leben nun mal von Leben lebt. Aber der Mensch ist im Gegenteil zu den anderen Lebewesen in der Lage, dem eine Sittlichkeit gegenüberzustellen, in der die Heiligkeit des Daseins unantastbar wird. Von einer höheren, noch unbekannten Bestimmung überzeugt, vermeidet es der ethisch handelnde Mensch, schädigend in Prozesse des Lebens einzugreifen. Nun ist die Verantwortung ins Grenzenlose erweitert. „Überall, wo Du Leben siehst, das bist Du!“ Und dann vergiss nie: „Gut bleiben, heißt wach bleiben!“ Im Verhalten gegenüber dem „geringsten“ Lebewesen, in der Einheit von Erkennen, Empfinden und Handeln zeigt sich dann, ob du das nicht nur verstanden hast, sondern es umsetzt in Leben…

Diese Ethik des Lebens gilt absolut. Vor ihr haben keine relativen Ethiken Bestand. Sie steht über den Sätzen der Propheten und über den Gesetzen der Staaten. Wie ein Lichtstrahl aus der Unendlichkeit gelangt sie mit der Idee der Liebe zu uns. Mit dieser „ethischen Mystik“, wie Schweitzer sie selbst bezeichnete, wird er, lange bevor sich eine integrale ökologische Ethik in der Kultur regte, zu ihrem Begründer.

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist Albert Schweitzer nun „tot“. Zwar wird sein Andenken bewahrt. Sein Name schmückt Schulen, Krankenhäuser, Stiftungen. Doch die Leuchtkraft seiner Lebensethik, gerade für diese so lebensverachtende Zeit, in der wir uns bewegen, harrt noch ihrer Entdeckung und ihrer Transformation in die Kultur und ins Leben selbst.

Für mich persönlich ist die Bedeutung dieses in das Leben verliebten, weisen Mannes, Kämpfers und Ästheten unermesslich. Sie hat meine Ethik, die ich Jahrzehnte an der Universität lehrte, fundiert, zentriert und ausgerichtet. Auf Albert Schweitzer bezogen habe ich gelernt, dass wir es uns durchaus zumuten dürfen, andere Menschen zu bewundern, ja zu verehren, ohne sie zu verklären. Wann war eine solche Orientierungskraft notwendiger denn heute. Und wann war es zugleich heilsamer, bei aller Destruktion doch zu sehen, dass wir Umkehr leben können, dass dafür Beispiel gegeben wurde…

Das Foto wurde dankenswerterweise vom Deutschen Albert-Schweitzer-Zentrum Frankfurt a.M. (Archiv und Museum) zur Verfügung gestellt