Angst

ClausAllgemein

Angst

Die Herausforderungen für ein lebensdienliches Sein, in denen wir alle stehen, konfrontieren jeden einzelnen Menschen und unsere Gattung insgesamt mit der dramatischen Notwendigkeit zu einer konvivialen Entwicklung. Ansonsten wird sich das Projekt Menschheit in absehbarer Zeit von selbst erledigen. Dass in diesem Zusammenhang Angst und Sorge sich ausbreiten, ist selbstverständlich und notwendig, aber auch mit Ambivalenz verbunden.

Da liegt das Neue, das wir erreichen wollen und erreichen müssen, als Anforderung und Erwartungshaltung vor uns – mit aller damit verbundenen Unsicherheit. Gleichzeitig suggerieren die Lebenskoordinaten, in denen wir uns noch immer komfortabel bewegen, eine scheinbare Sicherheit. So tritt dann neben die Vision für das Neue sowohl die Angst vor dem Verlust des Gewohnten, aber auch Selbstzufriedenheit. Oft grenzt diese an Vermessenheit und geht mit einer ausgeprägten Selbsttäuschung einher. Perversa securitas, seinswidrige Sicherheit, wurde sie von Aurelio Augustinus genannt. Das Pendel schwingt dann zwischen beflügelnder Hoffnung und der Schwerkraft, die sich daraus ergibt, greifen, halten und sichern zu wollen. Viele der schönsten Aufbrüche und ausnahmslos alle durchkämpften Revolutionen sind dieser Schwerkraft letztendlich erlegen und damit der Zerstörung ihres eigenen Impulses.

Angst und Sorgen wirken in diesem Spannungsfeld wie eine Schwerkraft. Sie treten auf uns zu als ein Zustand, der sich auf etwas Bedrohliches und zugleich Unbestimmtes und Diffuses bezieht. Diesen Zustand, der eine Grundbefindlichkeit des Menschen ausdrückt, können wir Seinsangst nennen. Sie lebt nur in dem Leben, das zur Selbstreflexion fähig ist. Das unterscheidet sie von der Furcht vor konkreten Objekten oder Gegebenheiten, die auch Tiere empfinden können. Seinsangst ist die Angst vor dem immer drohenden Nicht-Sein. Sie hängt tief mit dem Gefühl metaphysischer Einsamkeit und letztendlicher Verlorenheit des Ich zusammen. Seinsangst macht feindselig gegenüber eigenen Wachstumspotentialen und der Akzeptanz des Naturgesetzes, dass nur das noch lebt, was sich in Bewegung und Veränderung befindet. Angst, die sich am potentiellen Verlust und am eigenen Nicht-Sein orientiert, lässt erstarren, und sie sucht die Erstarrung, sucht die feste und vermeintlich unvergängliche Form. Aus der Zeitlichkeit und damit der Endlichkeit kommend, will sie Zeit anhalten und bewahren. So versklavt sie den Menschen in der Sorge um seine endliche Existenz. Als Liebe zum Leben maskiert, führen diese Angst und Sorge in eine Dynamik des Scheiterns und schließlich in den Verlust all dessen, was das Leben ausmacht.

Doch diese Befindlichkeit trägt, wie gesagt, ambivalente Züge. Als existentielle und vitale Regung erschließt sie die Welt auf ihre eigene Weise. Sie zwingt in eine Auseinandersetzung mit Welt, Endlichkeit, Vergänglichkeit und Entwicklung, die tief und schmerzhaft in das Wesen des Lebens führt und darin hält. Seinsangst widerstrebt jeglicher alltäglicher Verharmlosung. Immer wieder holt sie in eine tiefe Erschütterung zurück. Ihr kann das reflektierte Leben kaum entrinnen. Das gilt vor allem dann, wenn dich ein letzter metaphysischer Sinn deiner Existenz, der über das Erdenleben hinausreicht, nie ergriffen und verzaubert hat!

Sören Kierkegaard, der Kopenhagener Religionsphilosoph (1813 – 1855), hat uns darauf hingewiesen, dass wir ohne Angst kein wirkliches Schicksal haben. Ohne sie läuft das Leben in konventionellen Selbstverständlichkeiten und einer oberflächlichen Selbstzufriedenheit ab, in der nichts hinterfragt und in Frage gestellt wird. In der Angst aber sehen wir uns in Frage gestellt. Sie zeigt die Unsicherheiten, die mit dem Leben verbunden sind. Und in Lebenssituationen ohne Netz und doppelten Boden läßt sie uns vor notwendigen Entscheidungen fürchten. So macht sie aus Begebenheiten Schicksal!

Dieses Verständnis von Angst ist im engsten und zugleich dem weitesten Verständnis des Wortes existentiell. Es kann in einem grundsätzlichen Sinne, der sich auf das Sein des Menschen/der Menschheit schlechthin richtet, als ein Anzeichen dafür gesehen werden, dass eine bestimmte Entwicklungsstufe unseres Menschseins sich zu erschöpfen beginnt und ihre Kraft einbüßt. Dann wird diese Angst zum Ausdruck für sich anstauende Energien, die am Kulminationspunkt der Verunsicherung neue Wege zeigen und auf ihre Befreiung hinwirken wollen.

Die Angst geht also treu und verlässlich mit auf unserem Weg zum Werden. Und so lange sie den Menschen nicht in ihren Bann zwingt oder ihn in seinem Urvertrauen und Zukunftsvertrauen dramatisch mindert bzw. sein Erkennen und sein Handeln lähmt, kommt ihr als ein einzigartiges Auge der Erkenntnis eine potentiell heilende und ermöglichende Kraft zu.