Ich…!

ClausAllgemein

Was könnte im Verständnis vielfältiger und zugleich unschärfer sein als jenes Phantom, das ein jeder für sich selber entwirft und macht und das er auch für alle anderen, die er bewusst wahrnimmt, schafft. Das Ich ist Illusion und Faktum zugleich. Es entsteht in der einzelnen Person als ständig schwankende und sich verändernde Konstruktion. Es schafft und verändert Realität durch den Glauben an seine Wirklichkeit und die daraus hervorgehenden Handlungen.

Die Empfindung des Ich wächst als Folge der vom einzelnen Menschen wahrgenommenen Grenzen und Begrenzungen in einer vielfältigen und oft als unberechenbar erkannten Welt. Grenzvorstellungen bilden somit die Koordinaten für Denken, Empfinden und Handeln. Sie garantieren in Verbindung mit der Vorstellung Ich zu sein eine gewisse Substanz, Sicherheit und Verlässlichkeit. Selbsterkenntnis erhält in der Folge einen herausragenden Stellenwert.

In der Selbsterkenntnis tritt ein Mensch in Beziehung zu sich selbst und macht sich ein Bild von sich selbst. So erkennt er sich als Körper-Ich, Wahrnehmungs-Ich, Gefühls-Ich, Denk-Ich, Sprach-Ich, Verhaltens-Ich, Handlungs- und Verursacher-Ich, Erlebens-Ich, soziales Ich, Orts-Ich, geschichtliches Ich, biografisches Ich. All diese Ebenen, ihr Erleben, die damit verbundenen Erfahrungen und vor allem ihre Reflektion bilden die Grundlage dafür, dass der Mensch sich und seinen Potentialen gerecht werden kann. Aus ihnen erwächst auch erst die Fähigkeit, sich ziel- und ergebnisorientiert im Alltag bewegen zu können. Darüberhinaus formen sie das Fundament für die Gestaltung und Aufrechterhaltung von Beziehungen. Gerade was Beziehungsfähigkeit betrifft, wird oft übersehen, dass die Ichwahrnehmung, sei sie bewusst oder unbewusst, immer der Fremdwahrnehmung vorausgeht; und Selbstannahme und Selbstrespekt stellen die Basis dafür dar, dem Du wertschätzend und in Respekt gegenüber zu treten.

Das Ich repräsentiert somit ganz wesentliche Bestandteile der Persönlichkeit. Es sind die überwiegend bewussten Bestandteile. Sie generieren die einzige Wirklichkeit, der wir uns auch wirklich sicher sind. Das weist aber zugleich darauf hin, dass mit dem Ich nicht die ganze Persönlichkeit zu erfassen und zu erkennen ist. Denn diese beinhaltet darüberhinaus auch die unbewussten Anteile des Menschen sowie die Dimensionen des Transpersonalen, mit denen er in Berührung steht, wenn auch oft unerkannt.

Auf der Rückseite des Ich lebt das Ego. Beide haben viel gemein, sind jedoch nicht identisch. Im Ego zeigen sich die verhärteten, unreflektierten, verdrängten und vor allem die unerbittlichen und sich abgrenzenden Seiten des Ich. Es kann als Schatten des Ich gesehen werden bzw. als seine Verzerrung. Das Ego reduziert den Menschen auf sein Verlangen und auf seine Erwartungen. Für die Erfüllung beider sieht es sich jederzeit im Recht. Seine kleinen und großen Ziele versucht es entsprechend empfindungs- und rücksichtslos zu erreichen. Das Ego verletzt – andere Menschen, anderes Leben und mich selbst. Zu seinen Ausdrucksweisen gehören Unruhe, Verbissenheit, Hass, Selbsthass, Verachtung, Misstrauen, Kontrolle, Manipulation, Eifersucht, Neid, Gier, Stolz und Rechthaberei in Verbindung mit Streitsucht. Das Ego ist eng, und es engt sich und andere ein. Die Freiheit, die es zulässt, ist die Freiheit einer Lokomotive im Schienennetz. Gleichzeitig schenkt jedoch gerade diese Enge mit ihren Mustern an fixen Orientierungen und Gewohnheiten ein gewisses Maß an Sicherheit und Vertrautheit. Umso schmerzhafter ist deshalb auch jeder Versuch, Ego-Anhaftungen loszulassen bzw. zu überwinden.

Der Preis, den wir für die Einnistung im Ego zu entrichten haben, ist außerordentlich hoch. Er heißt fehlende Offenheit, fehlende Liebe, fehlendes Vertrauen. Er blockiert die Verwirklichung des tiefsten Lebenssinnes, nämlich Wachstum und Entwicklung.

Das Ich mit seinem Ego-Schatten macht zwar einen wesentlichen Teil der Persönlichkeit aus, es ist aber nicht hinreichend für ihr umfassendes Verständnis. Diesem können wir uns nur nähern, wenn wir das Selbst mit in den Fokus nehmen.

Das Selbst bezieht sich auf eine höhere Stufe des menschlichen Seins als die bei sich verbleibende Ich-Struktur. Im Selbst emanzipieren wir uns von der Ich-Verhaftung. Wir überschreiten uns, treten in Berührung mit dem Ganzen des Seins und halten uns offen für alles Überpersönliche. Das Selbst will zur Gesamtpersönlichkeit führen, indem wir unsere Ganzheit wahrnehmen und respektieren. In ihm drückt sich die universale Verbundenheit des Lebens aus.

Das Ich wird im Prozess der Selbstwerdung und Selbstverwirklichung nicht überwunden und nicht aufgelöst. Es bleibt präsent, aber es geht im Selbst auf und erkennt sich im Vorzeichen des Ganzen neu. Es spielt mit seinem praktischen Lebensbezug eine wesentliche Rolle für die Lebensbewältigung. Die Erdung des Menschen stellt es auch da noch sicher, wo er sich ganz über sich hinaus streckt in den Unendlichkeitsraum.

Auch das Ego wird nicht vollständig eliminiert. In seiner Kleinheit und Enge erkannt, hat es nun aber die Macht verloren, sich dem Sehnsuchtsruf nach Freiheit, Weite und Verwandlung entgegenzustellen. Je weiter das Selbst voran schreitet und sich öffnet, desto blasser wird der Schatten des Ego.

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