Ästhetik und Systemrelevanz

ClausAllgemein

Der Landkreis, in dem ich mein Zuhause habe, ist normalerweise nicht schlagzeilenträchtig. Es lebt sich hier still dahin, inmitten überwiegend industrieller Landwirtschaft und viel Massentierhaltung. Etwas hügelig, viel grün, nette kleine Dörfer. Coesfeld ist sein Name- aktuell in die Nachrichten geraten durch die in der Kreisstadt ansässige Tötungsfabrik namens „Westfleisch“. Nachdem dort in unwürdigen Verhältnissen arbeitende und lebende Werkarbeiter, überwiegend aus Südosteuropa, sich massenhaft mit Covid 19 infiziert haben, wurde sie am denkwürdigen Datum des 8. Mai vorübergehend geschlossen. Leider keine bedingungslose Kapitulation eines lebensverachtenden Branchenriesen. Die zahlreichen Infektionen waren schon länger bekannt, doch nicht zuletzt der Gesundheitsminister aus NRW betonte mehrfach, zuletzt am 8. Mai für die Morgennachrichten, die „Systemrelevanz“ der Fleischindustrie. Sie verbiete eine Schließung von Werken. So konnte sich das Virus ungestört verbreiten. Wenige Stunden später dann ließen sich die Verkuppelungen von Politik und Branche nicht mehr halten.

Systemrelevant also – wie der Banken- und Finanzsektor, die Fluglinien, die Automobilindustrie…
Für Kunst und Kultur halten die Repräsentanten dieses Systems demgegenüber die Relevanzschublade geschlossen. Denn hier sprechen wir von einem nice to have und keinem Muss. Was für eine Missdeutung!

Kultur und die Stätten, in der sie lebt und sich für die Menschen entfalten kann, erhalten gerade in Zeiten der Krise eine geradezu existentielle Bedeutung. Es sind Kunst und Kultur, die uns erbauen und die Schönheit und Ästhetik selbst da im Bewusstsein halten und ins Leben bringen, wo es ansonsten trostlos und grau aussieht. Je schlechter es einer Gesellschaft, aus welchen Gründen auch immer, geht, desto mehr braucht sie Kunst und Kultur und vor allem jederzeit zugängliche kulturelle Orte, um ihre Identität nicht nur nicht zu verlieren, sondern neu zu gewinnen.

Aus dem Ästhetischen und der Weise seiner Wahrnehmung als Schönheit leuchtet eine über die Zeiten und über alle Abgründe hinweg strahlende Gestaltungskraft. Und in Geschichtsmomenten, in denen dunkle Ahnungen sich verbreiten, dass eben diese Geschichte ein Ende haben könnte oder zumindest tiefe Brüche erlebt, erinnert sie uns an das Größere, das zur Vollendung ruft. Und sie erinnert daran, dass, was auch geschehe, was uns auch begegne, die Übereinstimmung mit der Schönheit des Schöpferischen und der Schöpfung dadurch nicht in Frage gestellt werden kann.

Es sind die Kunst und das Ästhetische, die Halt und Hilfe bieten, die auch auf das Überindividuelle und den überzeitlichen Raum verweisen. Sie geben Zeugnis von dem, was Menschen in kreativen Prozessen hervorbringen können – jederzeit. Sie richten auf. Der Absurdität stellen sie die Suche nach Schönheit gegenüber. An deren Kategorien sollte die Welt sich messen und sich selbst beobachten und in der Folge vielleicht sogar ein wenig besser verstehen.
Deshalb kann Kunst durch ihre Ausdrucksweisen auch jene Grenzen überspringen, die eine verwissenschaftlichte und rationalisierte Welt sich selber setzt. Sie erreicht die Seele noch da, wo andere Zugangsweisen unzureichend sind. Schlichte Bewunderung und einfaches Staunen, das sie hervorzuzaubern vermag, reichen schon, um auf das Wesentliche unausgesprochen zu verweisen. Kunst will zeigen, Ausdruck geben, die Wahrnehmung provozieren, Einblicke eröffnen, wie Welt möglich sein kann.
So hilft sie nicht nur, mit der Wirklichkeit fertig zu werden, sie schlägt auch Löcher in den Beton der Beharrung. Durch sie kann das Licht eines besseren Morgen scheinen.
 
Manchmal reicht dazu schon etwas Farbe.

Tirana, Hauptstadt Albaniens, könnte den Beinamen tragen: Tristesse in Grauheit und Beton.
Edi Rama, Ministerpräsident Albaniens, war von 2000 bis 2011 Bürgermeister dieser Stadt, die notorisch an Geldmangel leidet. Rama, selber Künstler, machte aus der Not eine Tugend. Das noch zur Verfügung stehende Geld investierte er in Farbe, ließ seine Stadt, in der er 1964 geboren worden war, bunt anmalen. So gedachte er, dem nachwirkenden und anhaltenden Niedergang nach der erniedrigenden stalinistischen Epoche, ein Zeichen des Lebens gegenüberzusetzen. Die Menschen sollten sich besser fühlen, auch wenn die Rahmenbedingungen selber noch die gleichen waren. Und es begann sich tatsächlich etwas in Tirana zu bewegen.

Edi Rama: „Nach einer langen, dunklen, grauen Zeit haben die Farben die Menschen aufgeweckt. Sie waren ein sehr starkes Zeichen der Wiedergeburt, der Lust zum Leben und des Erwachens.“

Jene Farben, so scheint es, wurden in hoffnungsvoller und bunter Weise systemrelevant.

„Das Kunstwerk ist eine imaginäre Insel,
die rings von Wirklichkeit umbrandet ist.“

(José Ortega Y Gasset)

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