Die sieben Lebenshaltungen

ClausAllgemein

Von November bis Ende Dezember des vergangenen Jahres hatte ich in sieben Blogbeiträgen zukunftsweisende Grundhaltungen des Menschen vorgestellt. Man könnte sie in gewissem Sinne als Gegenpart zu den sieben Todsünden sehen, wenn auch nicht spiegelbildlich. Im Folgenden habe ich die Beiträge essentiell zusammengefasst. So sind sie auch in dem Magazin „Maas. Bewusst und erfüllt leben“ erschienen.

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Wohin wollen wir?
Die sieben Lebenshaltungen

Claus Eurich

Die Krisen der Gegenwart, die nicht nur das Menschsein, sondern das Sein auf dem Planeten an sich berühren und bedrohen, müssen wir gar nicht mehr benennen. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wie wir uns ihnen stellen, mit welchen Konsequenzen für das Leben und für unser Verhalten. Verlässliche Orientierung findet sich dafür weniger im Außen als vielmehr in den Koordinaten des Innen. Denn da sind wir wirklich zu Hause, da ist unser Raum, unabhängig davon, an welchem äußeren Ort, unter welchen Bedingungen und in welcher Gesellschaft wir uns befinden. Die Antwort finden wir dann in dem überzeitlichen Geist- und Weisheitsraum, den jeder Mensch, zu jeder Zeit, ohne Vorbedingungen betreten kann, gleich auch, in welchen Bahnen sein Leben sich bislang bewegte. Sieben Grundorientierungen, die zugleich zu Grundhaltungen des Menschen werden können, möchte ich benennen.

Eins: Die orientierende Kraft der Stille

Orientierung zu finden, braucht gelegentlich Distanz. Sie braucht Distanz zur uns allenthalben umgebenden Ablenkungsindustrie, zu den Eingebundenheiten und Verhaftungen, die unser Leben prägen, zu uns selber und dem Ego-Tunnel, in dem wir uns so oft verfangen. Distanz, ohne zu verlassen und ohne zu trennen, weitet das äußere und vor allem das innere Auge.
Es geht bei Orientierung somit immer auch um den Raum der Stille und den Weg der Kontemplation, aus denen letztlich alles zu erwachsen vermag. Der Blick öffnet sich hin zur Wesenhaftigkeit.
Die Stille kann uns zu dem Quell, aus dem das Leben selber schöpft, führen. Hier sind Welt und Überwelt potentiell noch vereinigt, irdischer Grund und geistiges Universum aufeinander bezogen. Zwar könnten wir diesen Quell auch erdenken. Doch um ihn zu spüren, sich mit ihm zu verbinden, müssen die Gedanken sich niederlegen. Hinter ihrem Ruheraum öffnet sich dann das Zimmer des Schweigens. Ohne Türen gelangen wir von dort in die form- und zeitlose Stille. Von der hier gemachten Erfahrung aus, lernen wir nun, den Lauf der Dinge zu betrachten. Das ist eine tägliche Übung! Sie verändert das Leben und den Blick darauf grundlegend. Und gleich auch, was sich nun ereignet, dieser Grund trägt.

Zwei: Ehrfurcht vor dem Leben

Die Welt kann nur entzaubert, das Leben nur dann missbraucht, Mutter Erde nur dort geschändet und entwürdigt werden – wo es an Ehrfurcht mangelt; der Ehrfurcht vor dem Leben, vor dem Sein und Werden. Erst mit ihr als grundlegender Haltung beginnt das wesenhafte, das eigentliche Menschsein.
In seiner Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“, die vor gut hundert Jahren erstmals das Licht der Öffentlichkeit betrat, hat Albert Schweitzer das Verständnis von Ehrfurcht neu erweckt. Er bezog es auf das Leben an sich. Alles Leben ist heilig, ruft uns der große Menschheitslehrer zu.
Die Ehrfurcht vor dem Leben ist die Basis für eine Welt, in der sich solidarisches und liebendes Miteinandersein nicht länger auf Zwischenmenschlichkeit beschränken. Das führt in die unbedingte Bejahung des Seins, ohne zu klassifizieren und in höher oder nieder, wert oder unwert zu unterscheiden.
So entsteht eine universale Ethik, ja die universale Erscheinung und Form der Liebe. Sie grenzt nicht aus, sie integriert. Humanismus weitet sich zum Universalismus, neigt sich zu allem, was lebt, was ist. Forthin verbietet es sich, bewusst schädigend in Prozesse des Lebens einzugreifen. Die Lebensethik steht über den Sätzen der Propheten und über den Gesetzen der Staaten.

Drei: Geschwisterlichkeit

Die Ehrfurcht vor dem Leben verändert die Haltung und die Weise, mit denen wir anderem Leben begegnen. Geschwisterlichkeit ist dafür der rechte Begriff.
Es geht dabei um mehr als eine Existenz nur für uns selbst. Aus gemeinschaftlichem Geist und nicht einer Ansammlung von Individuen wächst der Erdenraum zu einem lebendigen Gemeinwesen.
Geschwisterlichkeit im Bewusstsein der Lebensethik nimmt das Leben an sich in den Blick, über evolutionäre und über Gattungsgrenzen hinweg. Die Schöpfung umarmen, ist das Grundgefühl dieser Geschwisterlichkeit. Das führt in der Folge zu einem grundlegend erweiterten Verständnis von Gerechtigkeit und Würde. So ist es nun überfällig, das Die Würde des Menschen ist unantastbar zu transformieren in Die Würde des Lebens ist unantastbar.

Vier: Einfachheit

Einfachheit wird hinsichtlich einer lebensdienlichen Zukunftsorientierung zum Schlüsselaspekt. Sie repräsentiert kein asketisches Verzichtsideal, will nicht an der Schönheit und der Ästhetik des Seins sparen. Vielmehr steht sie als Lebenshaltung für das angemessene Maß in allen Dingen. Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit treten an die Stelle der Jagd nach immer mehr.
Einfachheit öffnet den Raum für die Besinnung auf das Wesentliche. Die Lebensimpulse auf den verschiedenen Seinsebenen bewegen dann den Menschen und nicht die Verdinglichungen, nicht die austauschbare Medien- und Warenästhetik und nicht die Magie des Geldes. Auf das zu verzichten, was es zu einem Leben in Würde nicht braucht, befreit. Und diese Befreiung lässt sich in jeder Lebenssituation, jeder Lebensphase und auf jedem sozialen und  kulturellen Niveauerringen.
Als Haltung unserem Leben und dem Sein an sich gegenüber, hat Einfachheit auch eine innere Seite. Der frühere UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1905-1961) hat kurz vor seinem gewaltsamen Tod dazu folgendes in sein Tagebuch geschrieben:
„Einfachheit heißt, die Wirklichkeit nicht in Beziehung auf uns zu erleben, sondern in ihrer heiligen Unabhängigkeit.
Einfachheit heißt, sehen, urteilen und handeln von dem Punkte her,
in welchem wir in uns selber ruhen.
Wie vieles fällt da weg!
Und wie fällt alles andere in die rechte Lage!
Im Zentrum unseres Wesens ruhend begegnen wir einer Welt,
in der alles auf gleiche Weise in sich ruht.
Dadurch wird der Baum zu einem Mysterium, die Wolke zu einer Offenbarung und der Mensch zu einem Kosmos, dessen Reichtum sich uns nie ganz enthüllt…“


Fünf: Tapferkeit:

Tapferkeit kann als die Bereitschaft verstanden werden, im Ringen um die Verwirklichung des Guten auch Verletzungen hinzunehmen. Die Bereitschaft zur Verwundbarkeit entsteht um den Erhalt bzw. das Erlangen einer tieferen Unversehrtheit willen.
Die Tapferkeit ist entscheidend für die Verwirklichung des Guten, und gut ist, was dem Leben dient, es schützt, bewahrt, ermöglicht. Offensichtliche Ungerechtigkeiten nimmt sie deshalb nicht widerspruchslos hin. Sie gibt sich zu erkennen als Authentizität, Wahrhaftigkeit, Selbstachtung und eine Entscheidungsklarheit, die aus der Vernunft und aus dem Herzen kommt. Vor persönlichen Folgen schreckt sie nicht zurück, hält die gerade in der Gegenwart verbreitete Unsicherheit aus. Im Gegensatz zur Tollkühnheit schaut Tapferkeit auch der Angst ins Gesicht, lässt sich aber nicht von ihr beherrschen. Vorsicht, Behutsamkeit, Wachsamkeit, Sorgfalt und Geduld sind deshalb nicht der Widerpart, sondern die Begleiterinnen der Tapferkeit

Sechs: Tätige Hoffnung

Hoffnung ist ein Lebenselixier. Wo der Mut zum Sein im Angesicht von unerträglich scheinenden Existenzbedingungen auszubluten droht, sendet sie einen Lichtstrahl aus dem Möglichkeitsraum des Zukünftigen. So gibt sie eine letzte Zuversicht an die Hand, die es vermag, den Menschen aus dem Dunkel der Seele zu führen.
Doch eine Unterscheidung ist hier wichtig, nämlich die in billige und in tätige Hoffnung. Billig meint, dass sie sich auf die Verkündigung des Erhofften beschränkt und einen damit verbundenen unbegründeten Optimismus, dass die Dinge irgendwie gut ausgehen werden. „Das wird schon…“
Tätige Hoffnung geschieht demgegenüber in einem Urvertrauen, dass das, was der Mensch tut, immer auch sinnhaft und heilend sein kann. Die Basis dieses Urvertrauens liegt darin, Sinn auch dort zu sehen, wo der rationale Geist vielleicht verständnislos mit dem Kopf schüttelt. Nicht aus berechenbaren Wahrscheinlichkeiten speist sich dieser Sinn, sondern aus der Gewissheit einer Wirklichkeit, die höher ist als alle menschliche Vernunft. Dieser Wirklichkeit, der wir letztlich alles Sein verdanken, gibt sich die Hoffnung vertrauend und tätig hin. Sie nimmt ernst, dass eine Möglichkeit und eine Zukunft zwar ersehnt und erkannt werden können, dass dies aber auch eine Anforderung darstellt, ja mit einer Bringschuld des Menschen verbunden ist – ohne die Garantie einer „Gegenleistung“.

Sieben: Weisheit

Weisheit schenkt uns einen überzeitlichen, tiefenkulturellen und evolutionären Blick. Sie führt in die Gelassenheit aus der Vogelperspektive. Mit ihren Augen prüfen wir anstehende Entscheidungen, dringlich scheinende Kurskorrekturen und auch notwendige Einordnungen und Urteile, was das Geschehen in der Welt anbelangt. Es ist dabei die Grundlegung und Autorität zum Teil Jahrtausende alter Überlieferungen, die diesen souveränen Blick ermöglichen. Damit der Mensch nicht vorzeitig an den Bedingungen scheitere, die ihn umgeben, stellt ihn die Weisheit also in die notwendige Distanz zu der Verfangenheit im Moment und zu den Wahrnehmungsbegrenzungen, die in der Situation liegen.

Der gewaltige Bogen der Weisheit umfasst Immanenz und Transzendenz, Erde und Himmel, Zeit und Ewigkeit. Trotz aller kulturellen Unterschiedlichkeit in unserer Welt ruht dieser Bogen auf den Säulen der Tugenden, die für Gutheit und Lebensdienlichkeit des Handelns stehen.
Die Weisheit ist die 7, Alpha und Omega, die Quelle und Vollendung zugleich. Wenn wir das anstehende Hindurch bewältigen wollen, dem Pfeil aus der Zukunft folgend, der uns den Weg zur wahren Menschwerdung zeigt, dann wird dies nur in einer von Weisheit erfüllten Menschheit denkbar und möglich sein. Das mag verdeutlichen, welche Herkulesaufgabe vor uns liegt und in welchen Zeitdimensionen wir dabei wohl rechnen müssen. Ein Zurück gibt es nicht, genau so wenig wie eine Rettung der alten, uns vertrauten Welt. Aber immerhin: Alles ist im Raum der Weisheit immer schon vorhanden. Es will nur erkannt, ergriffen und zu Leben geformt werden.


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Die sieben Seins-Haltungen und das darauf bezogene Denken, Empfinden und Handeln, verfeinern das Feld des Geistigen auf dieser Erde. Jeder einzelne Mensch und jede noch so kleine Gruppe sind hierbei von außerordentlichem Belang!
Und so gilt es, nicht auf Zahlen zu schauen, nicht zu zögern und nicht zu zagen, sondern zu beginnen, schon jetzt den Traum und das ersehnte Ideal zu leben – in der mir jeweils möglichen Eigenheit und Konsequenz. Potentialität ist immer da, in jedem Moment. Die Luft ist immer kairoshaltig. Schon allein das gibt Grund für eine tiefe Dankbarkeit.


Weiterführende Literatur:
Claus Eurich: Aufstand für das Leben. Vision für eine lebenswerte Erde. Petersberg 2016
Claus Eurich: Radikale Liebe. Die Lebensethik Albert Schweitzers. Hoffnung für Mensch und Erde. Petersberg 2020

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