Mit dem Abschied leben

ClausAllgemein

Für viele Menschen zeigt sich ihr Seinsraum als Bewegung innerhalb von Extremen. Er liegt zwischen der Anhaftung im Diesseits und dem Sehnsuchtsdrang, der in die Überschreitung führen will.
Im Beharrungswesen Mensch scheint sich dabei etwas grundlegend zu sträuben, Erreichtes und Erlangtes als Freiheitsgut zu sehen, als etwas, das in Bewegung steht, sich verändernd, mutierend, zerfließend, vergehend. Leben, ausnahmslos, bis in die vom Menschen geschaffenen Beziehungen und selbst die Dinge hinein, ist etwas Vorübergehendes. Mancher wird mit dunkler Brille sagen, dem sind wir ausgeliefert, die Vergänglichkeit ist unser Fluch. Eine andere mag sich demgegenüber dankbar im Fluss des Seins geborgen wissen und fühlen. Und sie nimmt als selbstverständlich hin, dass das soeben Gehörte bereits nicht mehr ist, wenn wir es als Klang vernehmen, sowie jenes vom Auge Erblickte, schon im Moment der Wahrnehmung nicht mehr genau das ist, was ich fortan als ins Bewusstsein gebranntes Bild in mir trage.
Das Transzendenzwesen Mensch streckt sich demgegenüber in das Unbedingte, in die zeitlose Energie des Absoluten, der wir entstammen und zu der wir zurückkehren und in der wir jederzeit ruhen. Fraglosigkeit erlöst hier das Haben- und Halten wollen. Sie wird getragen von einer Ursehnsucht, die den Menschen erst zum Menschen macht.

So schwingen wir zwischen Alpha und Omega und dürfen Beides doch nicht als Endpunkte sehen, sondern Umschreibungen für Fließmomente in einem infiniten Prozesses. Unser Platz ist die Bewegung, unsere Identität der Strom von Potentialität und Vergänglichkeit. Diese Identität hat keinen festen Ort und keine feste Zeit und schon gar kein statisches Bewusstsein ihrer selbst. Wir können sie nicht haben, nicht an Dingen festmachen oder an zeitbedingten Normen und Urteilen.
Da mag man fragen: Was bleibt?
Es bleibt die Identitätskrise als Identität. Diese Krise schließt immer das Bewusstsein des sogenannten Todes als letzter Freiheit mit ein. Er steht als unübersehbares Zeichen für die Vergänglichkeit und doch setzt er zugleich die Zeit, die sich im Bewusstsein der Menschen vor ihm windet, außer Kraft und überwindet sie.

Menschen und Kulturen, die sich an das Gegenwärtige, das Sichtbare und das Immanente gebunden haben, negieren bzw. verdrängen den Tod, vor allem den eigenen. Sie meinen zu haben, grenzen sich damit ab und müssen verteidigen. Der Grunddefekt, den diese Anbetung des Endlichen in sich trägt, liegt darin, es absolut zu setzen. So konstruiert sich in der Folge eine ganz eigene Vorstellung von Ewigkeit, die ihre Nahrung darin findet, dass es anscheinend immer weiter geht und immer besser wird und ansehnlicher. Wie im Fortschrittsglauben der Moderne und Postmoderne wird das epochale Ende nicht mitbedacht, werden der Verfall und das Vergehen überspielt. Entsprechend prägend sind die individuellen und kollektiven Muster der Verdrängung. Sie erheben sich zu einem mächtigen Schatten, was etwa dazu führt, dass wir uns ökologisch so verhalten, als wären wir unsterblich und unsere Nachkommen nicht vorhanden. Das ganze Lebensnetz leidet dramatisch darunter. So wird oft künstlich verlängert, was eigentlich abgelaufen ist, wird durch Klammern die Kraft entzogen, die dem Neuen, das kommen will, fehlt. Wer das Vergehen nicht auch als Lebensbewahrer sieht, kann das Leben nie verstehen.

Das Verständnis des Todes als finalem Unheil wuchs mit der Herausbildung des Individualismus. Denn das Heraustrennen einer Lebensexistenz aus dem Netzwerk des universellen Seins gibt dem einzelnen Leben in der subjektiven Empfindung eine absolute Bedeutung. So steht der Tod für das definitive Ende. Allenfalls bleibt die Hoffnung auf ein Fortleben nach dem Tode. Doch dieses ist wiederum auch nur individualistisch gedacht.
Erst mit dem Wandel vom Ich-Bewusstsein zu einem Bewusstsein universaler Verbundenheit kann das Verständnis vom Tod dieser Verkürzung entrinnen. Nun steht das, was wir Tod nennen, als Ende einer Wegstrecke, nicht aber des Weges selbst; es steht als Fortfall realer Grenzen und das Eintauchen in neue Seins- und Bewusstseinsströme. Es verbildlicht aber auch die nackte Notwendigkeit, Platz zu schaffen für neues Leben. Lernen, vom Ende einer Wegstrecke, vom Tode als Transformation her zu denken, befreit nicht nur ein Stück aus der fixierten und versklavten Zeit; es entfesselt auch jene Parodie von Ewigkeit, die sich in den Umschreibungen von Zeitlichkeit erschöpft.

Die unentrinnbare Wegstation des Todes stellt jeden Augenblick des Lebens in ein besonderes Licht und konfrontiert ihn mit spezifischen Herausforderungen. Sie wertet den Moment auf. Sie lehrt aber auch, konsequent den potentiellen Abschied auf nahezu alles hin zu leben, ja ihm, wie Rilke es formuliert hat, immer voran zu sein. Dann kann die bewusste Vorwegnahme dem Abschied wohl nicht das auch Bittere und Zwingende nehmen; aber zugleich hat das:
Bedenke, es geht vorüber, und es ist später als du glaubst…
auch möglicherweise etwas Entlastendes, wenn der Abschied eintritt. 

Das Leben bei allem Genuss des Moments auch als Abschied zu leben, nimmt der Welt viel an Macht über den Menschen. Er tritt in Distanz, ohne Intensität zu opfern, ja, gewinnt sie doch eigentlich erst im Horizont eines jederzeit möglichen und wahrscheinlichen Verlustes. Dazu gehört die Haltung des Abstands sich selber gegenüber, den Gewohnheiten und Erwartungen, den Ängsten und Obsessionen. Im Zulassen des Ungewissen und in der immer wiederkehrenden und sich immer wieder neu und anders ausdrückenden Bereitschaft zur Selbsthingabe, zeigt sich die jeden Tod überstrahlende Freiheit. Es ist dieses Zulassen, das den Menschen in die fortwährende Nähe zum göttlichen Bereich rückt und damit in ein Feld, das keinen Endpunkt kennt. Der aus dieser Nähe sich ergebende Drang und die in dieser Nähe wach gehaltene Sehnsucht nach dem Unbedingten und Absoluten sind selbst absolut. Sie können nicht verlöschen wie ein kleines Glück.

Im Abschied leben, das Sterben zuzulassen und dem Tod als Weggefährten zu begegnen meint nicht, der Welt und den sie bewohnenden Wesen gleichgültig gegenüberzutreten. Abschiede, und schon gar, wenn es sich um das körperliche Sterben geliebter Menschen handelt, können nicht getrennt von der Bewältigung in der Trauer gesehen werden. Trauer wartet als das Gegenüber einer jeden Bindung, gehört zur Wahrscheinlichkeit einer jeden Liebe. Sie steht als Preis dafür, lieben zu können und lieben zu dürfen, und wir sind sie dem Gehenden und Gegangenen schuldig. Genau wie uns selbst.
In der Trauer beweist sich eine innere Haltung dem Abschied gegenüber. Der Tod und die Trauer stehen als letzte Bastionen der Freiheit im Diesseits und als Tore in den Raum des Zeitlosen.

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