Zeit des Phönix

ClausAllgemein

Es darf keine Nachlässigkeit dabei geben, den Möglichkeitsraum immer wieder zu thematisieren, in den hineinzubewegen unser menschlicher Adel fordert – um nicht nur überlebensfähig, sondern entwicklungsfähig zu bleiben. Gewiss, dies zielt auch auf Gesellschaft und Kultur, doch zuerst weist es zu mir selbst. Wenn ich mich nicht auf diesen Weg begebe, wie kann ich es dann von irgendwo anders her erwarten?

Jede(r) von uns trägt in einem großartigen Sinne Mitverantwortung für das universelle Ganze. Diese erfüllt sich aber nur, wenn wir wahrhaftig so leben, als wären wir für das Ganze auch verantwortlich. Hier erhebt sich nun die Herausforderung, inmitten einer weitgehend verdinglichten, konsumistischen und zugleich egoistischen Sozialformation den Phoenix zu erwecken, was gleichwohl nicht geht, ohne gleichzeitig in den Neuentwurf der eigenen Biographie einzutreten. Wir selbst zu werden, lautet die Aufforderung; und zwar jenseits dessen, was man uns sozial, kulturell oder auch religiös einredet, was wir seien oder zu sein hätten; oder hinsichtlich der Art und Weise, wie man uns darstellt in medialer Verkümmerung und Verkrümmung, und worauf bezogen wir dann ja auch versuchen uns anzupassen bzw. die Fassade unseres Lebens entsprechend zu schminken.

Noch viel zu oft betritt das Bewusstsein des Einzelnen erst dann die Bildfläche, wenn aus dem Unbewussten, aus verfestigten Mustern und aus überkommenen inneren Bildern heraus bereits gehandelt wurde. Das kann sich ändern, wenn die Lebensvision und darauf bezogene Metaphern erweckt und am Leuchten gehalten werden und nicht nur das Gegenwärtige, sondern auch das erhoffte Zukünftige erhellen. Dann drängt und führt die Kraft der Sehnsucht, und das Kommende erhält eine Imprägnierung, bevor es sich als Gestalt materialisiert.

Welches Wesen unser Phoenix hat, vermag dabei nur jene Synthese aus Liebe und einer integralen Vernunft zu zeigen, die Rationalität, Empfindung, Intuition, Weisheit und Kontemplation als Erkenntnis- und Lenkungsweise einschließt. Das Fundament solcher Synthese ist der Respekt gegenüber dem Eigenwert und den Eigenbedürfnissen auf der einen und dem universellen lebensdienlichen Anspruch auf der anderen Seite. Daraus folgt die rechte Selbstachtung. Wer so aufbricht, lässt sich von der eigenen potentiellen Größe ziehen. Sie gibt Orientierung und Haltung. Er bestimmt sie über seine Sehnsucht nach dem Absoluten und seine oft noch verborgene Vision eines gelingenden Lebens. Wir gehen dann in dem Vertrauen auf uns selbst und beginnen den großen Marsch im Kleinsten und Alltäglichen.

Allerdings setzt das eine Antwort auf zwei Fragen voraus, die sich jede(r) nur selbst geben kann:
Wer möchte ich im ansprechendsten und zugleich realistisch darstellbaren Sinne sein?
Mit welcher Haltung und mit welchem Gefäß will ich aus dem überquellenden Brunnen meiner Humanpotentiale schöpfen?

Der Mensch darf sich in diesem Auftrag zum Neuentwurf durchaus von der Idee seines Möglichseins und damit von sich selbst faszinieren lassen, ohne allerdings narzisstisch verstiegen und entsprechend hypnotisch gefesselt jenen Rahmen auszublenden, der uns als Person dieser Zeit an diesem Ort gegeben ist und den wir nicht verlassen oder gar verraten wollen. Die Bewährung geschieht in dem gelassenen Respekt gegenüber dem Sosein der Dinge und im Zulassen, ohne sich jemals in innere Abhängigkeit von irgend etwas Äußerem zu begeben.

Der Phoenix ist frei, inmitten aller Bindung. Das Zeitbewusstsein, das seine Flügel trägt, heißt Kairos. Es ruft ihm zu: „Jetzt, gerade jetzt, ist alles möglich. Schüttele den Ruß deiner Vergangenheit ab, erlöse deine Schuldgefühle, deine Ohnmachtsempfindungen und deine Verbitterung im Aufstehen und im Aufbruch. Und erinnere dich dabei an den Satz, den einst der Prophet aus Nazareth sprach: Wer die Hand an den Pflug legt und schaut zurück, ist nicht geschaffen für das Heil.

Es ist Phönix-Zeit. Die noch gebundene Gestalt des Vogels in uns wartet auf Befreiung und Erlösung. Wenn er dann fliegt, zerteilt er die dunklen Wolken der Trägheit und Beharrung. Licht kann sich dann ausdehnen und den Seelen- und Erdenraum wärmen und erhellen.

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