Vergiss nicht deine Flügel

ClausAllgemein

Nicht nur bezogen auf den Zustand unserer Erde, sondern auch in unserem ganz alltäglichen So-Sein begegnen wir immer wieder existentiellen Erfahrungen: Kraftlosigkeit, Unvermögen, das Bewusstsein, an Grenzen geworfen sein, Ohnmacht. Sie stoßen uns unbarmherzig auf die Tatsache, dass es an dem Punkt, an dem wir angelangt sind, nicht weitergeht; nicht mit den bekannten Mitteln, nicht auf den vertrauten Wegen. Doch wäre es nur das. Oft heißt Ohnmacht auch, Willkür ausgeliefert zu sein, der anderer Menschen und der deutungsleerer Situationen und Ereignisse. Naturkatastrophen, die wahllos Menschenopfer fordern, gehören zu diesen Ereignissen, genau wie Unglücke und manche Verbrechen, in denen es keine konkrete Opfer-Täter-Geschichte gibt. Wir können ihnen allenfalls einen konstruierten Sinn beimessen. Als Zufallsdesaster aber überrollen sie jede Berechenbarkeit, jede Planung, jeden perspektivischen Horizont. Nackter Hilflosigkeit ist ausgeliefert, wer die übermächtige Gewalt anderer Menschen erleiden muss. Ihm widerfährt etwas ohne Chance der Reaktion. Jede nachträgliche Sinnzuweisung wird dann nicht mehr als eine zitternde Geste der Hilflosigkeit. Und es schmeckt nur noch bitter, wenn Sinnzuweisungen dort probiert werden, wo der Faktor Sinn selbst ausgerottet wurde – wie bei den unzähligen Genoziden der Menschheitsgeschichte und der Vernichtung der Arten im Garten der Evolution.

Bezogen auf das, was wir Ohnmacht nennen, ist es deshalb angemessen, diese verschiedenen Ebenen zu unterscheiden. Von dem, was aus dem Dunkel heraus gewalthaft übermächtig sich ereignet und für alle Betroffenen im Dunkel des Verstehens verbleibt und zutiefst verstört, sollten wir statt von Ohnmacht von Verhängnis zu sprechen. Einem Verhängnis kann ich aus eigener Kraft nicht entkommen. Ohnmacht als Grenzerfahrung hält demgegenüber Optionen der Entwicklung von Situation und Person. In jeder Ohnmacht ruht potentiell ihr Gegenteil, der Neuentwurf, der in die Gestaltung führt.

Die Ohnmacht, genau wie das Scheitern, konfrontieren den Menschen mit seinen Grenzen. Gerade dadurch lassen sie ihn jene Tiefe des Seins erkennen und spüren, die über jede Begrenzung hinausweist. Und erst dadurch wird es möglich, sich angemessen in das Sein zu entfalten und es zu gestalten. Jede Konfrontation mit der Ohnmacht ist somit zugleich ein Zeichen für das Mögliche. Es ist der innere Appell zu wachsen. Erkunde die Bedingungen der Ohnmacht und lote sie aus. Stelle die alten Ziele, die alten Wege und die alten Blickweisen auf Probleme in Frage. Dann scheinen durch das, was dich blockiert hat, die neuen Perspektiven durch. Vergiss aber vor allem nie, dass du Flügel hast, wie uns eine alte arabische Geschichte lehrt:
„Schlangen verschlingen kleine Vögel. Dies habe ich auf dem Weg nach Morvan gesehen. Die eingeringelte Schlange hob den Kopf über ihre klebrigen Ringe hinaus. Das gebannte Rotkehlchen hüpfte mit kleinen mechanischen Schritten an den Rachen der Schlange heran. Es hatte vergessen, dass es zwei Flügel hatte, und wusste nicht mehr, dass ihm die ganze Weite des Himmels offenstand.“

Das Zugeständnis der Schwachheit und der Ohnmacht, in Verbindung mit dem Drang, beides in seinen Gründen wirklich zu verstehen, wird zur vielleicht entscheidenden Selbstfindung. Wir kommen bei uns an und lernen in jenen Kräften zu ruhen, die uns eigen sind. Dann entdecken wir, dass diese Kräfte nicht vereinzelt, sondern Teil eines unendlichen Kraftstromes sind, der jedes Leben umgibt und trägt. Dessen bin ich teilhaftig, daraus ziehe ich meine ganz persönliche Lebensenergie. In dieses immer schon Vorhandene kann ich nun neu und bewusst eintauchen. Vielleicht lerne ich dann sogar, manche der mir gegebenen und manchmal ja auch nur gegeben scheinenden Grenzen zu überwinden. Das ist die Dialektik der Ohnmacht. So bewahrheitet sich der zunächst paradox klingende Satz, dass, je tiefer der Mensch in Ohnmacht versetzt ist, desto mehr sich sein eigentliches Wesen enthüllt und desto klarer seine Größe und Schönheit sichtbar werden.