Narben der Seele

ClausAllgemein

Menschen sind voller Narben. Manche kann man sehen, sie fühlen und begreifen. Andere liegen tiefer. Sie stammen von Wunden im Herz, in der Seele. Vertrauensbruch, Untreue, Kränkungen und schwere Schicksalsschläge hinterlassen solche von Außen unsichtbaren Narben.

Narben verschließen Wunden. Sie schützen Verletztes davor, unangemessen berührt zu werden, halten Blut und Lebensenergie im Körper. Und sie bleiben, als Zeichen für Geschehenes und Ausgangspunkt für wiederkehrende Erinnerungen. Sowohl äußere, als auch die seelischen Narben, bilden eine Art Ersatzgewebe, das Lücken schließt, aber immer auch mit Einschränkungen verbunden ist.

Von manchen Narben wissen wir gar nicht, dass sie da sind. Sie liegen hinter Spuren von Erinnerungen, prägen uns aber trotzdem tief; wie bei körperlichen oder seelischen Verletzungen in der Kindheit oder bei Missbrauch. Sie beeinträchtigen oft zeitlebens, bis ihr Ursprung sich einen Weg ans Licht gebahnt hat und vielleicht eine Bewältigung beginnen kann. Es kommt sogar vor, dass offene Wunden unerkannt in uns existieren, die zunächst entdeckt werden müssen, bevor Narben sich bilden können. Das gilt vor allem, wenn die Wunde mit tiefer Scham, Schuldgefühlen oder Ekel verbunden ist und sich ein Schleier der Verdrängung darüber gelegt hat.
Andere, durchaus bewusste Wunden, sperren sich dagegen zu heilen. Wir kennen das von posttraumatischen Belastungsstörungen, wo unbearbeitete Schreckens- oder Schockerlebnisse, die im Nervensystem gespeichert werden, unvermittelt wieder vor Augen stehen, ausgelöst durch ein Geräusch, einen Geruch, ein Bild, eine Bemerkung oder auch nur einen Blick in das Vergangene. Flashback.

Sowohl körperliche als auch seelische Narben können aufbrechen und eine Wunde mit dem dazu gehörenden Schmerz wieder bloßlegen. Durch Unachtsamkeit der Mitwelt und fortwährende eigene Grübelei werden sie dann selber zu einer schmerzenden Wunde. Zumeist allerdings ruhen sie als Mantel des Schutzes still, entwickeln sich von einem Fremdkörper zum Teil meines körperlichen oder seelischen Leibes.
Die Narbe hat den Menschen verändert. Die Stelle, an der sie sitzt, ist visuell oder durch Empathie spür- und wahrnehmbar. Der Bereich auf der Haut oder Seele fühlt sich taub an. Doch was als Schwäche gesehen werden kann, lässt überhaupt erst eine in Maßen befreiende Distanz zu.

Manchmal, im Traum, macht das, was die Vernarbung verursachte, auf sich aufmerksam. Ein anderes Mal dämmern in stillen Stunden Gedanken ins Bewusstsein, die neue Zuwendung für das vor langer Zeit Geschehene einfordern – weil da noch Unbewältigtes ist, man vielleicht einen Menschen, von dem man enttäuscht oder verlassen wurde, nicht auf eine Weise loslassen kann, wie es heilsam wäre; aber auch, wenn die stetige und gelassene Bewegung der Zeit den schlimmsten Schmerz so beruhigt hat, dass wieder klare Gedanken gefasst werden können.

Narben stehen gleichwohl nicht nur für Schmerzhaftes aus der Vergangenheit. Wenn ich sie als etwas respektiere, das zu mir gehört, als kostbarer Teil meines Lebens, das untrennbar mit meiner Geschichte und meinem Schicksalsweg verbunden ist, dann kann ich sie integrieren. In der Folge beginnen sie sich zu wandeln. Aus dem Anlass zur Erinnerung werden Augen der Seele. Sie schauen mit der Fähigkeit des erfahrenen, des wissenden, des zur Empathie fähigen Menschen auf das, was geschieht. Sie mahnen zur Um- und zur Vorsicht. Sie lassen mich nun das, was mir selber widerfuhr, auch im Anderen erspüren. So vermag die eigene Bewältigung einen Beitrag für das Erkennen und die Heilung des Du zu leisten.

Das Ziel des Lebens liegt gewiss nicht darin, unversehrt daraus hervorzugehen. Ohnmachtserfahrungen, Scheitern und Verwundungen gehören dazu, machen es überhaupt erst zu dem, was wir Leben nennen. Durch seine Narben wächst der Mensch zur Ganzheit, die Ausdruck gibt von der Fülle des Seins. In Freude und Schmerz, in Verwundung und Heilung, in Herausforderung und Bewältigung.

Auch wenn die Metapher abgedroschen daherkommen mag: Rosen haben Dornen. Und Dornen schlagen bei fehlender Achtsamkeit Wunden, fordern Blut. Rumi, der große Mystiker des 13. Jahrhunderts:
«Du fragst nach einer Rose – lauf vor den Dornen nicht davon.»

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Das Foto habe ich diese Woche an der Glaswand der Kirche St. Willehad auf Wangerooge gemacht