Dem Fremden und Unbegreiflichen in unserer Vorstellung und Empfindung haben wir den Namen „das Andere“ gegeben. Sei es die geistige, transzendente „Anderswelt“, sei es eine sich von der eigenen grundlegend unterscheidende Auffassung, sei es das manchmal irritierende So-Sein eines Menschen, sei es all das, was mir einfach als verschiedenartig und als Nicht-Ich begegnet. Schon etwas Anderes überhaupt zu bemerken und es entsprechend zu benennen, ohne zu klassifizieren oder gar zu diskriminieren, sollte uns in der heutigen Zeit Respekt abringen; ist doch viel zu oft, viel zu vielen Menschen, das, was sich ereignet und nicht ereignet, was ihnen begegnet oder außerhalb der direkten sinnlichen Wahrnehmung liegt, gleichgültig, sprich: gleich – gültig. Der rasende und nicht zu bändigende Strom der Bilder und Informationen, in dem kaum noch nennenswerte Differenz aufleuchtet, weil alles nach Aufmerksamkeit giert, spielen hier sicher eine Rolle. Aber auch das schwächer Werden von Orientierungen, Markierungspunkten, Fixsternen in Ethos und Haltung tragen ihres dazu bei. Alles reiht sich irgendwie in das Gewohnheitsmäßige ein. Selten ragt etwas heraus. Der unterbrechungslose Konsum des Gleichförmigen ist das zentrale Ereignis. Letztlich gelangweilt, werden das Grauen in den Bildern von den Geschehnissen auf der Erde, die alltäglichen Routinen und Rituale, der Zauber des Werdens und die Melancholie des Vergehens zur Kenntnis genommen – begleitet von zu Spreu gewordenen Worten, von aschfahler Rhetorik. Empörungen, die Aufmerksamkeit einfordern, sehen sich bereits im Moment ihres Aufschreis durch einen anderen Aufreger ersetzt. Irgendwann hören wir nicht mehr die originalen Stimmen im Augenblick ihres Ertönens, sondern nur noch das Echo ihrer unterscheidungslosen Aneinanderreihung.
Was kann da noch „anders“ und „das Andere“ meinen? Und wie lässt sich dessen Anderssein um seiner Einzigkeit willen bewahren?
Treten wir einen Schritt aus uns heraus und schauen aus übergeordneter Perspektive auf die Begegnung des Ich mit einem Anderen. Beide sind durch ihre Differenz zueinander momenthafter Ausdruck der Vielfalt und des Reichtums von Sein. Das stellt sie als Repräsentanten des Universellen in eine außerordentliche Verantwortung füreinander. Diese kann in dem Gipfelsatz ausgedrückt werden, den Jesus zu Thomas sprach: „Ich bin Du.“ Verantwortung in solcher Größe gerecht zu werden, meint dann auch: „Ich übernehme die Verantwortung dafür, dass Du Deiner Verantwortung gerecht werden kannst; im Zweifelsfall stellvertretend für Dich.“ So schützen wir einander unsere Freiheit. Und das ist nicht lediglich irgendeiner Moral geschuldet, sondern der Wertschätzung und Bewahrung von Reichtum im Prozess von Sein und Werden. Auch dient es der Erinnerung daran, das etwas anders ist, ohne dass man der Verlockung nachgehen sollte, jenes Anderssein zu definieren und abzugrenzen; würde es dadurch doch unverantwortlich eingeengt. Das stattdessen geleistete Bemühen um Integration des Nicht-Ich in das Ich schützt dabei auch vor jenem Altern, welches durch endlose Wiederholungen und dadurch geschieht, dass wir uns aus Bequemlichkeit mehr und mehr einander angleichen.
In dem mir begegnenden Anderen scheint die Grundenergie des Seins in einer ihrer unzähligen Facetten durch. Es zeigt sich ein Ausschnitt aus der unendlichen Lebensvielfalt. Der Andere und das Andere verweisen auf das Überschreitende und damit oft auch Geheimnisvolle.
Das mag mir gefallen oder auch nicht; es mag mir im Einzelfall angenehm sein oder das Gegenteil. Entscheidend sind die Überzeugung und der Wille, diesem Anderen mit Ehrfurcht gegenüber zu treten und meinen Teil beizusteuern, es in seiner Besonderheit zu schützen. Nicht werten, lassen. So leiste ich zugleich mir selber einen Dienst. Denn auch ich bin nicht nur anderem Leben ein Anderer, sondern manchmal auch mir selbst.
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