Gewissenskultur als angewandte Liebe

ClausAllgemein

Wenn kein Rat mehr weiterbringt, die Erinnerung an die großen Tugenden nicht in das unmittelbare Erfordernis des Moments hineinreicht; wenn sich Ratlosigkeit im Denken, Fühlen und Abwägen ausbreitet – dann bleibt als Orientierung und letztendliche Handlungsanweisung das Gewissen. Es findet seinen Platz jedoch nicht nur im Vorfeld des Tuns. Von sich aus bemerkbar macht es sich gleichermaßen im Nachgang eines Geschehens – etwa als nagender Selbstzweifel, verbunden mit wiederkehrender Unsicherheit oder als Wohlfühlempfindung, alles richtig gemacht zu haben. Dabei regt es sich nicht nur als ein geistiger, manchmal auch unbewusster Abgleich zwischen Recht und Unrecht bzw. Sein und Sollen. Es tritt in die Wahrnehmung als eine Empfindung, ein Spüren. Leise Unruhe oder Bedrängnis breiten sich im Brust-Kopf-Bereich aus oder eben auch eine befreiende Energie, die entspannt durchatmen lässt.
Man kann das Gewissen zuschütten, verdecken oder auch wegargumentieren. Aber es bleibt dann wie die Verdrängung eine im Hintergrund zehrende graue Energie. Sie nimmt Leichtigkeit, Unbeschwertheit und Glanz aus dem Leben, bricht die Spitzen und Tiefen von Begeisterung, Freude, aber auch Entsetzen und Trauer.

Kommt es zu einer Differenz zwischen dem eigenen Wertekanon, den verinnerlichten Überzeugungen und dem Verhalten bzw. Tun, sprechen wir von einem schlechten Gewissen. Es wird von Schuld und Scham begleitet. Besteht weitgehende Deckungsgleichheit zwischen den inneren Maßstäben und dem äußeren Wirken, ruhen wir in einem guten Gewissen. Es meldet sich nicht besonders, sondern zeigt sich als unaufgeregte Stimmigkeit. Beides vermögen wir im Vorfeld einer Handlung zu antizipieren, was sich auf die Entscheidungsfindung heilsam auszuwirken vermag.

Ob das Gewissen einen uns mitgegebenen bzw. angeborenen Sinn für das Erkennen von Ethos und Moral darstellt oder es als ein Produkt von Kultur, Gesellschaft und Sozialisation gesehen werden sollte, darüber gehen die Einschätzungen auseinander. Es ist wohl eine in jedem Menschen unterschiedlich eingefärbte Melange aus Beidem.

Instinktives, keiner weiteren Reflexion bedürfendes Handeln entsteht bezogen auf den Schutz der eigenen Kinder und Enkel bzw. hinsichtlich derer, mit denen wir in Liebe verbunden sind.
Kultur setzt den Rahmen aus Normen, Werten und Moral, die allerdings jeweils in historischem Wandel stehen.
Sozialisation bzw. Erziehung nehmen auf den kulturellen Rahmen Bezug, geben ihm aber durch soziale, familiäre und familiengeschichtliche Einbettungen eine spezifische Ausprägung.
Personal Schicksalhaftes vermag hinsichtlich der Gewissensausprägung in verschiedenste Richtungen zu intervenieren.
In jeden Menschen wesenhaft Gelegtes, Angeborenes, entzieht sich einer rationalen Begründung bzw. Ursächlichkeit. Es ist einfach da, macht den „Menschen“ erst zum Menschen.

Diese diversen Einflüsse lassen das Gewissen bei verschiedenen Menschen und Menschengruppen sich möglicherweise in völlig unterschiedliche Richtungen entwickeln. So hat ein Kannibale kein schlechtes Gewissen beim Töten und Verzehren von Artgenossen. Bei ihm bildete sich jener anthropologische innere Widerstand, diese „Beißhemmung“ hinsichtlich des Gleichen nie heraus. Das wirft die Frage auf: Wo beginnt eigentlich das Menschsein im heutigen Sinne? Kann man es an dem Gewissen festmachen? Oder kommt man nicht an der Einsicht vorbei, dass es Stufen gibt, die erst zur Menschwerdung führen?

Das Gewissen braucht Maßstäbe. Und diese unterliegen genauso evolutionär/kultureller Entwicklung wie das Gewissen selbst einen Entwicklungsprozess darstellt, den man als Bewusstseins- und Seelenarbeit bezeichnen kann. Bricht man diesen Prozess im Verlauf des Lebens ab oder hat ihn überhaupt nie zu einem reflektierten Beginn geführt, verharren die Koordinaten des Gewissens in einem engen Muster, das keine Fragen und keine Widersprüche zulässt. Dann entsteht das, worauf Albert Schweitzer hinweist: nämlich dass das gute Gewissen des Teufels sei. Nicht zuletzt stehen dafür gerade solche Strömungen, die alle Moral der Welt für sich in Anspruch nehmen – politische Ideologien und die fundamentalistischen Deutungen des Religiösen jeglicher Couleur.

Man kann Mannigfaches anführen, was der Gewissenschulung und Gewissenspflege zugrunde zu legen ist, vor allem die zehn Gebote und die Menschen- bzw. Lebensrechte. Doch all das bleibt äußerlich und führt nicht zu einer Herzensregung, wenn die Liebe fehlt. Die Liebe zum Menschen, die Liebe zum Leben, die Liebe zu Mutter Erde.
Spätestens, wenn wir die Liebe als Grundenergie mit in den Raum nehmen, zeigen sich zwei Ebenen des Gewissens, die einerseits zusammenhängen, sich aber zeitbedingt auch auseinander entwickeln können. Da ist einmal die Ebene, die sich an der jeweils herrschenden Moral orientiert, von äußeren Instanzen beeinflusst wird und sich leicht gesellschaftlichem Druck beugt. „Das gehört sich nicht…“, „Du solltest…“ rufen die Stimmen, die eine Person an- und einpassen wollen. Und da lebt Jenes, das wir als das reine Gewissen bezeichnen können, das aus sich selbst heraus besteht, keiner weiteren Begründung bedarf und dessen orientierender Lichtpunkt die Liebe ist. Von Martin Luther ist der Satz überliefert, dass das Gewissen der Ort im Menschen sei, an dem sich entscheidet, woran der Mensch gebunden ist. Was also obsiegt? Wofür schlägt das Herz?

Diese fortwährende Klärung und die damit verbundene notwendige Pflege des Gewissens möchte ich die Gewissenskultur eines Menschen nennen. Sie bedarf intensiver Selbstreflexion: um nicht Täuschungen zu erliegen und auch um einer Umwertung höchster Werte nicht wehrlos gegenüber zu stehen. Dieses geschieht nämlich schnell, wenn etwa aus dem Tötungsverbot und dem Friedensgebot ein „Du musst Töten bzw. es billigen, um Frieden herzustellen“ wird, oder „Du musst Töten bzw. es billigen, damit das ‚Gute‘ siegt.“

Das gewissensbasierte Tun braucht Mut. Es fordert die Bereitschaft zur Unterscheidung der Geister und eine entsprechende kontemplative, nachspürende Fundierung sowohl des Bewusstseins, als auch unserer Empfindungen. Es wächst und stärkt sich in jeder Regung durch eine lebensorientierte und damit empathische Zugewandtheit. Bei Gewissenskultur geht es nicht um abstrakte Überlegungen, bezogen auf idealisierte Maßstäbe, sondern um angewandte Liebe. Um es in Worten von Aurelio Augustinus auszudrücken: „Liebe, und dann tu, was du willst.“

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