Wir verbinden Treue normalerweise mit Beziehungen und einer darauf gerichteten Verlässlichkeit und Exklusivität. Paare erhoffen sich davon eine gewisse Stabilität, das Eindämmen von Eifersucht und eine Basis für Vertrauen.
Treue fordern aber auch die alten religiösen Verständnisse ein, wie in den abrahamitischen Religionen das oberste Gebot: “Ich bin der Herr Dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“
Durch den Fahneneid verpflichtet sich ein Soldat der Treue dem eigenen Land gegenüber. „Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe.“
Einer Treuepflicht unterliegt auch die Beamtenschaft. Stetige Dienstleistung, aktives Bekenntnis zur Freiheitlich-Demokratischen-Grundordnung, Mäßigung und Zurückhaltung bei politischer Betätigung und Wahrhaftigkeit gehören dazu. Die Verpflichtung gilt auf Lebenszeit.
Staaten gleichwohl wandeln sich, wenn nationale und/oder internationale politische Machtgefüge sich verschieben. Kriegs- und Verteidigungsziele können den über allem stehenden Menschenrechten so fundamental widersprechen, dass jeder soldatische Eid und jede Staatstreue ihre Legitimation verlieren. Ehepartner können sich in völlig unterschiedliche Richtungen mit veränderten Bedürfnissen und Ansprüchen entwickeln.
Was bedeutet das dann?
Gerade wenn ein auf Abwegen sich bewegender Staat blinde Gefolgschaft einfordert, ist es geboten, ihm Treue zu erweisen – allerdings nicht dem System in bedingungsloser Nibelungentreue, sondern dem demokratischen Grundgedanken, auf den man einmal schwor. Es geht um das Ideal, nicht den Machtapparat! Wahre Treue erfordert dann Tapferkeit und Zivilcourage. Sie widersetzt sich ihrer missbräuchlichen Einforderung. Treue reicht somit tiefer als eine oft blinde Loyalität. Sie wurzelt in Überzeugung und letztlich Liebe. Sie lässt sich nicht davon vereinnahmen, wie die Geschehnisse im Lebensdrama sich winden.
So gilt es auch einer Seele auf ihrem Lebensweg treu zu bleiben, selbst wenn die Körper und geistigen Orientierungen sich vielleicht unheilbar voneinander entfremdet haben – ohne dass dabei von Schuld oder Fehlverhalten gesprochen werden könnte.
Zu eng gefasste Treue kann scheitern und entsprechendes Versagen nie ausgeschlossen werden. Und so ist für den hohen Anspruch von Treue die Weite des Herzens unabdingbar. Sie passt das Treueverständnis eines Ausgangspunktes den Veränderungsströmen des Leben an. Sie holt sich voneinander entfernende Seelen auch mit Hilfe des Gewissens zurück und versucht eine neue Balance herzustellen. Dem Wesen eines Menschen in Treue verbunden zu sein, ist der Anspruch, unabhängig von all den äußeren Veränderungen, die aus dem Leben erwachsen.
Solche Treue versteht sich als Prozess, emanzipiert von einer Treueerwartung, die sich lediglich an Vergangenem orientiert, vom Fluss des Lebens entfremdet.
Je mehr wir die einzelnen Dinge betrachten, die Treue einfordern und sie in der Energie von Leben und Veränderung wahrnehmen, desto klarer destilliert sich eine diamantene Treueebene heraus: Dem Leben in seinem Wandel dienen – aus Liebe und Ehrfurcht vor dem Leben. Herrscht darauf bezogen innere Klarheit und Orientierungsgewissheit, dann wird ein Mensch allem mit der rechten Haltung begegnen und sich entsprechend verhalten. Das gilt vor allem in jenen Zeiten, in denen der Lebensweg nicht grade, sondern wie ein gesunder Fluss in Mäandern und manchmal auf Umwegen verläuft.
Das eigene Treueverhalten bedarf der stetigen inneren Vergewisserung und Neubelebung. Treue will begründbar sein, damit sie von Dauer ist. Mit Selbstreflexion bildet sie eine Symbiose. Unreflektierte Treue versagt sich der Notwendigkeit ihrer Erneuerung und einer Verbindlichkeit, die sich im Wandel erweist. Darin liegt speziell für Glaubensfragen eine besondere Herausforderung. Einerseits gilt es interkulturell als selbstverständlicher Anspruch, die Religion, zu der man sich bekannt hat, nicht zu verleugnen. Zugleich erfahren gerade Religionen im Verlauf ihres Lebenszyklus derart zeitbedingte Ausschmückungen, Dogmatisierungen und von Machtinteressen bestimmte Deutungen, dass eine entsprechend mitgehende Treuekultur fast schon an Gotteslästerung grenzt. Hier ist deshalb eine kontinuierliche Reinigung und Neuvergewisserung hinsichtlich des Essentiellen unabdingbar. Für das Christentum bedeutet dies, immer wieder heimzukehren zu der Essenz der sogenannten Herrenworte, also den in den Evangelien verbrieften authentischen Aussagen Jesu. Die Bergpredigt mit ihren Seligpreisungen und die Gleichnisse stehen hierbei im Zentrum. Aus ihnen erschließt sich nahezu alles. Darüber hinausgehende Spitzfindigkeiten und zeitbedingte Relativierungen mögen von feuilletonistischem Interesse sein. Mehr aber auch nicht. Aus ihnen erwächst keine Bindungserfordernis.
Jegliche Treue setzt Treue zu sich selbst voraus. Zu sich zu stehen, zu den Grundsätzen, den Neigungen, der Vergangenheit, den Krisen, dem Scheitern. So wird deutlich, dass Treue als Prozess keine Schönwetterübung ist. Der treue Mensch ist sturmerprobt. Er verliert auch im Regen stehend nicht sein Vertrauen. Er hat den Ruf des Lebens gehört.
„Komm‘, komm‘, wer immer du bist,
Wanderer, Götzenanbeter.
Du, der du den Abschied liebst.
Es spielt keine Rolle.
Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.
Komm‘, auch wenn du deinen Schwur tausendfach gebrochen hast.
Komm‘, komm‘, noch einmal komm‘.“
(Grabinschrift des 1273 verstorbenen islamischen Mystikers Rumi)
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