Es ist ein Kreuz – Säkulare Passionsgedanken

ClausAllgemein

Als das Volk Israel Gefahr lief, sich von seinem heilsbringenden Gott und dessen Gesetz, der Tora, abzuwenden, in dem es sich alten Stierkulten hingab, rief Mose es zur Ordnung. Verschenkt euer Herz nicht an falsche Götter, betet keine goldenen Kälber an, nur weil eure Sinne nach einer sichtbaren Gestalt dürsten. Denn wohin die Sinne die Sehnsucht lenken, da ist auch das Herz.
Es geht also nur vordergründig darum, keinen „falschen“ Gott anzubeten, um nicht der Eifersucht des „wahren“ Gottes zu verfallen. Wichtig ist vielmehr, dass das Falsche im Menschen herrscht, wenn es erst einmal das Herz kolonisiert hat. Gleichzeitig währt diese Herrschaft nur auf Zeit, so sehr sie den Menschen auch bindet. Das offenbar Werden ihrer Bodenlosigkeit, das Zerbrechen und in den Abgrund Stürzen der Götzen sind früher oder später unausweichlich – wie bei jeder Lüge. Wo hat dann die Seele Halt, woher kommt Orientierung, wenn die vertrauten Kulte sich als Täuschung erwiesen haben?

So in etwa kann man die alte biblische Erzählung, die in der Konstituierung des Dekalog, der zehn Gebote mündete, wiedergeben. Bekanntlich blieb ihr Einfluss auf den Verlauf der Geschichte marginal. War es wohl schon zu Mose Zeiten schwer genug, die innere Instanz zu kultivieren und zu heiligen, statt sich von Äußerem blenden zu lassen, so haben sich in der Folge die verdinglichten Gottheiten in wechselnden Gestalten als dauerhaft stärker erwiesen. Sie beherrschen die Erde und regieren selbst all jene Jünger, die sich zu Vertretern der einzigen und wahren Gottheit stilisieren, in welcher Religion auch immer; den ein oder anderen Rufer in der Wüste, die ein oder andere Prophetin einmal ausgenommen. Und stürzen Götzen vom Sockel, ist das anbetungswürdige Faszinosum verbraucht, werden neue errichtet, in immer kürzerer Halbwertzeit. Das hat Folgen. Innerer Verwahrlosung bzw. Desorientierung des Menschen folgt die äußere Verwüstung der Erde im Gleichschritt.

Das goldene Kalb, oder genauer: der goldene Stier der globalen kapitalistischen Konsumkultur hat die Völker innerlich zerbrochen. Ihre Zuwendungsenergie, ihr Alltagsgebet als Lebenspraxis fokussiert ein Verständnis von Wohlstand und Wohlergehen, das sich auf Anhäufung und Produktaustausch stützt. Der in eine irrsinnige Güterproduktion und -konsumption mündende Raubbauexzess an den natürlichen Ressourcen bindet einen Großteil der planetaren Lebensenergien. Das mediale Universum und die digitalen Ströme fungieren dabei als Motor und Rechtfertigung zugleich. „Gott“, das ist die Anbetung der Dinge, ritualisiert in deren Suche, Erwerb und Verbrauch.

Viele Gesellschaften auf der Erde haben endlich das Niveau erreicht, auf dem niemand mehr verhungern muss und Sklavenarbeit weitgehend abgeschafft ist. Warum eigentlich befreit das nicht andere Wesenheiten im Menschen als die der Anhäufung und des Verbrauchs? Wofür hat das, was wir Kultur nennen und auch das, was Spiritualität meint, so viel an Kostbarem geschaffen und allgemein zugänglich gemacht? Wobei für „Kultur“ hier nicht Anpreisung und Konsum kultureller Waren und Dienstleistungen stehen soll, sondern innere Haltung und Ausrichtung.
Die Antwort dürfte zutiefst verstören und dem edlen Selbstbild des Menschen einen Spiegel vorhalten, aus dem nichts Essentielles zurückblickt.

Mutter Erde zeigt uns mittlerweile unmissverständlich, dass der Weg der Verdinglichung zu einem Abgrund geführt hat. Wir stehen an seinem bröckelnden Rand. Hinter uns reichlich verödetes Land. Wie soll jetzt die notwendige Ganzheit im Menschen und in der Gemeinschaft entstehen, wenn das, was bislang Halt und Orientierung gab, was hierher geführt hat, nun erodiert ist?
Was betet der Mensch, dessen Fluch und Segen es ist, seine Sehnsucht nach Größerem hin zu strecken, dann an? Wie kanalisiert sich seine so grandiose und zugleich selbstzerstörerische Zuwendungsenergie – vor allem, wenn es um Verteilungskämpfe in einer stetig wachsenden Menschheit geht?
Was passiert, wenn Menschen, die nicht in sich und einer sie übersteigenden Geborgenheit ruhen, sondern abhängig sind von äußeren Gegebenheiten, deren Zerfall lediglich noch zur Kenntnis nehmen dürfen?
Wird es Unruhen geben, wie sich das bereits heute andeutet, wenn seitens der Politik ja nur minimalistische, nicht der Rede werte Interventionen vorgenommen werden, wie bei Heizungs- oder Agrardieselverordnungen? Wie wird das erst sein, wenn Güter wirklich knapp sind und die Verteilung geregelt werden muss? Wie tragend ist dann die zivilisatorische Haut?
Dass wir es überwunden hätten, einander Wolf zu sein – homo homini lupus est, wie die Römer sagten – lässt sich nur so lange behaupten, wie das Raubtier in so vielen von uns wohl gesättigt ist und sich nur marginal provoziert fühlt. Das Auge des Realisten registriert jedoch das Erwachen der verwilderten Selbsterhaltung um jeden Preis.

Ja, man hat etwas getan für Klima und Erde. Aber eben immer nur so viel, dass es nicht weh tut, die gewählten Lebensperspektiven sich nicht in Frage gestellt sehen. Grün ist nur so lange eine gute Farbe, wie sie nichts kostet und nicht zu Lasten der Bequemlichkeit geht. Die gesellschaftlichen Strukturen mit ihren auf sinnlosen Verbrauch hin angelegten Verhaltensweisen und Verhaltenserfordernissen erlauben allerdings auch kaum etwas anderes als beschämende symbolische Ersatzhandlungen. „Wir kaufen nur noch Fleisch, wo wir den Bauer und den Namen von dem Schwein kennen, das wir grade essen.“

Das Leben narkotisiert sich in Träumereien und Illusionen, wenn Handlungsoptionen fehlen, die den Namen Option auch wirklich verdienen. Wem stünde es da noch zu, Erwartungen zu formulieren? Wohl jede(r) steckt selbst tief in diesem Menschheitsdilemma, das nicht nur ein personales, sondern vor allem auch ein strukturelles und ideologisches ist.

Ich denke an meine und die anderen Kinder, die vielleicht den Beginn der vierten Dekade dieses Jahrhunderts noch erleben werden; und ich denke an deren Kinder, die vielleicht noch den Beginn des kommenden Jahrhunderts zu ertragen haben. Was auch geschehe, wie der Mensch auch scheitere – es bleibt noch die Liebe, hört man sagen. Aber wohin und worauf richtet sie sich? Welchen Preis ist sie bereit zu zahlen? Noch nie ist wahre Liebe zum Leben billig gewesen. Vor allem dann nicht, wenn sie tätige Liebe sein will und nicht nur eine sentimentale Regung…

Zum Anhören klicken Sie bitte hier
Wenn Sie meinen Blog abonnieren möchten, klicken Sie bitte hier

Das Foto habe ich von einem Glasfenster der Nikolai-Kirche auf Wangerooge gemacht