Was ist los in diesem Land?

ClausAllgemein

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“ schrieb Heinrich Heine 1844. Es ist wohl eine der durch die Zeiten hindurch am meisten zitierten, auf Deutschland bezogenen Gedichtzeilen. Nun wird es vermutlich für die verschiedensten Menschen jeweils Verschiedenes sein, was sie mit Unruhe, Sorge oder auch Wut verbinden; und dieses lässt sich jeweils noch recht unterschiedlich bewerten. Die Klimakrise, die kriegerischen Auseinandersetzungen, die Migrationsfrage und soziale Ungleichgewichte mögen dafür als Beispiele dienen. Sie zeigen aber auch, wie viel Widerspruchstoleranz wir gegenwärtig als Bürgerschaft aufbringen und aushalten müssen, um uns noch als Gemeinwesen zu spüren.
Ich möchte nur wenige Auffälligkeiten ansprechen, die allerdings das Potential in sich tragen, auf jeweils ihre Weise einen düsteren Kulturwandel hervorzurufen, bzw. zu verstärken. Mir ist bewusst, dass ich damit teilweise entgegen des allgemein respektierten Meinungsklimas argumentiere.

Abgrenzung, Ausgrenzung, Hass

Mit der „Alternative für Deutschland“ hat eine Partei die politische Arena betreten, die in Teilen höchstproblematische Positionen offensiv vertritt, gerade wenn man sie in Bezug zur deutschen Geschichte stellt. Dazu muss nichts wiederholt werden, das Thema flutet die veröffentlichte Meinung. Die Rhetorik der Partei ist zumeist alles Andere als versöhnlich. Doch vergleichbar erschreckend sind manche Reaktionen der Menschen, Gruppierungen und Parteien, die für sich reklamieren, die wahren Demokraten zu sein. Mir geht es hierbei vor allem um die Nazi-Vergleiche. Diese liegen auf einer ähnlichen Ebene wie die Holocaust-Leugnung. Was sich gerade in einer bestimmten Ecke an zweifellos schwer Erträglichem parteipolitisch tut, mit dem in eins zu bringen und es entsprechend zu benennen, was zwischen 1933 und 1945 passierte – Zivilisationsbrüche, Massenmord, Terror, Angriffskriege, ein verwüstetes Land eingeschlossen – ist unsäglich. Eine historische Singularität wird als Keule gegenüber unliebsamem Gegenwärtigem missbraucht. Das nimmt dem Damaligen die Einzigkeit des Grauens – ein verantwortungsloser Umgang mit dem schrecklichsten Teil deutscher Geschichte, der sich vor der Mühe um Differenzierung scheut. Stattdessen wird nach Verbot, nach Grundrechtsentzug und Ähnlichem gerufen.

In Talkshows werden (was noch von der Corona-Krise her vertraut ist) gegenüber grundlegend Andersdenkenden durchgängige Abwehrfronten aufgebaut. Demokratische Diskurskultur meint demgegenüber aber, das Andere, den Anderen, die Andere auszuhalten, solange nicht grundlegende Rechtsstaatsprinzipien und Menschenrechte in Frage gestellt oder verletzt werden. Es darf kein Nachlassen in dem Bemühen geben, immer neue Wege des kommunikativen Austauschs zu suchen und zu pflegen, auch um besser zu verstehen. Anschlusskommunikation zu halten, ist unverzichtbar – ein Grundanspruch auch jeglicher diesen Namen verdienenden Diplomatie. Ausgrenzung spaltet und verführt zu selbstgerechten, sehr schnell selbst ideologisch sich aufblähenden Blasen.

Kriegsrhetorik und Kriegsvorbereitung

„Eine Aufstellung von militärischen Streitkräften in Deutschland wünschen wir nicht, wir haben genug vom Krieg.“ Bundeskanzler Konrad Adenauer, 1950. „Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen.“ Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, 1957.
Man weiß, was daraus wurde.
Gewiss, die Zeiten haben sich geändert, der Mensch jedoch sein Wesen nicht. Krieg ist noch immer eine Option. Kein Land, kein Staatenbund und kein Bündnis, die wirklich bereit wären, den gordischen Knoten aus Gewalt und Gegengewalt, aus militärischer Drohung und Gegenaufrüstung zu durchschlagen. Wer das fordert – ein Träumer, gefährliche Pazifistin, sicherheitspolitisches Hochrisiko. An deren Spitze jener Nazarener, der Feindesliebe, Vergebung und aufeinander Zugehen anmahnte, „nicht sieben, sondern siebenundsiebzig mal“. Das klingt im sogenannten christlichen Abendland heute geradezu subversiv.

Deutschlands Generalinspekteur und damit ranghöchster Soldat, Carsten Breuer, sagte Ende Januar, dass „Quadriga“, die größte Übung deutscher Landstreitkräfte seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs, ein wichtiger Schritt zur Kriegstüchtigkeit sei. Die fordert auch der sozialdemokratische Verteidigungsminister fast täglich ein. Artilleriegeschosse werden öffentlichkeitswirksam mit dem Kanzler und einem Repräsentanten von Deutschlands Rüstungsschmiede „Rheinmetall“ präsentiert; mit stolzem, zuwendendem Blick, als würde es sich um Schokoladentorte handeln und nicht Geräte zum Vernichten von Menschen, Land und Zukunft. Eine neue Rüstungsfirma soll nun die Produktion noch einmal deutlich nach oben fahren. Die sozialdemokratische Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, bringt zeitgleich europäische Atomwaffen ins Spiel, und die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann ermahnt, dass die Debatte über eine atomare Bewaffnung „nicht in der Öffentlichkeit diskutiert gehört“.

Bellizisten besetzen die oberen Ränge, die das Volk vertreten und all das erschreckenderweise stromlinienförmig medial eingebettet. Wenn Kritik zu hören ist, dann an der unzulänglichen Ausstattung der Streitkräfte. Es mag sein, dass man das als Realismus bzw. Realpolitik definiert, was sicherlich zutreffend ist, wenn man die gegenwärtige Evolutionsstufe von Homo Bello, der sich so gerne Sapiens nennt, mit bedenkt. Und es mag sogar sein, dass dieses Wesen mit seinen archaischen Reflexen gar nicht anders kann. Dann allerdings haben wir – und die gegenwärtigen und noch kommenden bzw. wiederkommenden politischen Brandstifter mitbedacht – das Urteil über uns gefällt.

Das Wesentliche an den Rand geschoben

Die hunderte von Milliarden, die in Aufrüstung fließen, könnten nicht nur soziale Schieflagen und Bildungsdefizite korrigieren und einen ökologischen Perspektivwechsel einleiten. Sie könnten auch einer so überlebensnotwendigen Klimapolitik den entscheidenden Impuls geben. Wie wir sehen, ist das Geld ja da bzw. scheint da zu sein. Doch mag das Land in Teilen auch absaufen, sich bald wieder unerträglich erhitzen und an den – von uns aus betrachtet – „Rändern dieser Erde“ bereits der Notstand ausgebrochen sein… das Verhängnis scheint noch immer zu weit weg, um aufzuwachen und sich zu besinnen.
Es ist erst wenige Tage her, dass Meeresforscher aus den Niederlanden eine Studie veröffentlichten, zu der ihr Hauptautor, René van Westen, dem britischen „Guardian“ erklärte, dass durch die Klimakrise die atlantische Umwälzströmung, die u.a. für das milde europäische Klima verantwortlich ist, vor dem Kipppunkt steht. Es könne bereits im kommenden Jahr, aber auch erst im kommenden Jahrhundert so weit sein – es lägen noch nicht genügend Daten vor. „Was uns überrascht hat, war die Geschwindigkeit, mit der der Umschwung eintritt. Es wird verheerend sein.“ Temperaturen könnten in Teilen Europas um bis zu 30 Grad Celsius sinken, der Meeresspiegel des Atlantik sich um einen Meter erhöhen, im Amazonas-Regenwaldgebiet sich die Regen- und Trockenzeiten umkehren, mit wiederum desaströsen Folgen.

Wer meinen Blog bereits länger verfolgt, weiß um meine letzte Zuversicht und das große „Trotzdem“, was den Menschen und seine Entwicklungsfähigkeit betrifft. Doch dieses „Trotzdem“ hat begonnen, blass und schwach zu werden, wenn es um eine zukunftsweisende, lebensdienliche und enkeltaugliche politisch/gesellschaftliche Ausrichtung geht. Die Zeit ist da, zu akzeptieren, dass das, was wir gerade erleben, nun einmal der Mensch ist – neben allem Wunderbaren, das er ja auch verkörpert. Die anstehenden Verhängnisse auf den unterschiedlichsten nationalen, internationalen und globalen Ebenen gehören unvermeidbar zu uns. Das sind wir, genau wie das WIR, von dem Sie mir vor Wochen schrieben. Um dessen und um des Humanum und nicht irgendeiner illusorischen Rettung willen, muss das „Dennoch“ im Denken und Tun nicht nur bewahrt, sondern täglich neu errungen werden. Dies gilt genauso für die unermüdliche Suche nach wahrhaftiger Friedensgemeinschaft und deren Verwirklichung in entsprechenden Begegnungen. Nicht zuletzt geht es dabei auch um unsere Selbstachtung.

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