Lob des Tagtraums

ClausAllgemein

Wenn ich esse, esse ich
Wenn ich putze, putze ich
Wenn ich den Garten jäte, jäte ich…


…und bin ganz achtsam und präsent bei dem, was ich gerade tue. Und sonst nichts! Ich lebe bedingungslos im Jetzt, verschmelze mit meinem Tätigsein, schweife nicht ab in meine Gedankenwelten.

Wer könnte es wagen, diesem Dogma des Zen, der Achtsamkeitslehre und der unzähligen Jetzt-Ratgeber zu widersprechen. Und doch ist heute wieder einmal so ein Tag, an dem meine Innenwelten ihr Recht einfordern.

Beim  Spazierengehen mit dem Hund noch in der Dunkelheit des Morgens, beim Laub Rechen, beim Fegen der Küche meldet sich der Sehnsuchtsruf aus den Zauberwelten, die in einem rationalen Sinne nicht sind und vielleicht auch niemals sein werden. Und trotzdem sind sie da, waches Bewusstsein, und ich lasse sie deshalb immer wieder auch sehr bewusst zu. Wann sollen sie denn ihre zarten Fühler zu uns hin ausstrecken, wenn nicht in Zeiten, die uns ansonsten gedanklich nicht besonders fordern?

Nun könnte man einwenden, das sei doch alles nur Maya, Illusion, wie vor allem der Hinduismus lehrt. Es holt dich aus der Gegenwart.
Ja, gewiss – aber die sogenannte Illusion ist zugleich eine Kraft, wenn sie sich mit dem Gegenwärtigen verbindet und ihm den Spiegel vorhält; wenn der Tagtraum von einem gelingenden Sein auf einer friedlichen und mit allem Leben versöhnten Erde dir zum Nordstern wird. Du weißt, du kannst ihn nicht erreichen, aber er gibt Orientierung, und er zieht dich. Er zieht dich in eine Verfeinerung, ja Veredlung des Momenthaften, das dich umgibt. Er lässt dich wachsen.

Wenn ich meine Traumwelt zulasse, reichert das meine Wirklichkeit an, und es verändert sie, wirkt in die sogenannte erste Realität zurück. Zwei Universen durchdringen sich gegenseitig. Jede Grenze wird für einen Moment überwunden. Ich bekomme neue Energie für die Gegenwart, manchmal auch einfach nur Balsam für die Seele.

Im Tagtraum widerstehe ich sowohl einer eiskalten Entwicklungsraserei wie auch einer gedanklichen Verödung. Ich bewahre Kostbarkeiten, zumindest in meinem Herzen. Ich halte die geistigen Felder zu den Gegangenen in meiner Erinnerungskultur aufrecht. Manchmal verdichtet sich der Tagtraum, gerade bei solchen Arbeiten, die ansonsten keine geistige Herausforderung darstellen, zur Vision, zu einer ganz eigenen inneren Prophetie. Und dann liegt ein Zauber über dem Moment, und die Blätter liegen trotzdem im Korb, und der Geruch des feuchten Laubes war mir trotzdem eine sanfte Berührung, und der Boden im Wohnzimmer ist trotzdem wieder frei von Hundehaaren.

Auch das ist „Jetzt“, auch das ist „Präsenz“ – vorausgesetzt, ich bin mir auf einer Metaebene der Gleichzeitigkeit des ganz Unterschiedlichen immer bewusst.
Wir sind Grenzgänger zwischen den Welten, und das ist gut so! Es ist das Noch Nicht, das dem Schon Jetzt die Ausrichtung schenkt.

(Der Comic ist von Charles M. Schulz, 1922 – 2000)

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