Aufbruch in das neue Land

ClausAllgemein

Wie ein verschlossenes Buch liegt die Zukunft vor uns. Die einzelnen, noch leeren Seiten, öffnen und beschreiben wir durch das, was wir jetzt in diesem Moment denken oder nicht denken, tun oder nicht tun. Nichts davon war schon einmal da. Und noch immer ist jederzeit so vieles möglich, trotz der Sackgassen, in die sich die Menschheit manövriert zu haben scheint, trotz der nicht zu heilenden Schäden, mit denen wir diesen wunderbaren Planeten gezeichnet haben.
 
Als gelebte Ambivalenz verkörpert Homo Sapiens zweierlei: das, was in Anmaßung, Gier, Ignoranz, Versuchung und Trägheit wurzelt; aber eben auch das, was ihn zu einer jederzeit möglichen Potentialität aus Liebe, Empathie und Zuwendung adelt. Dieser Möglichkeitsraum umgibt uns allenthalben. Wir sind eingetaucht in ihn, getauft durch seine Verheißung. Im besonderen Moment, der alles enthält und den wir Kairos nennen, öffnet sich dieser Raum in unserem Bewusstsein, und wir betreten ihn. Es ist, als bräche etwas aus dem Ewigen in unser Zeitliches, in unsere Alltagswirklichkeit ein, den Zauber dessen versprühend, was auf seine Geburt wartet.
Kairos-Momente wollen erahnt, gespürt und dann ergriffen werden. Mit dem, was sie freisetzen und wozu sie uns befreien, tritt Wandlung ein – von mir, der ich mich dem Strom der Veränderung mitgestaltend hingebe, und von Welt.

Die in dieser Erdzeitstunde Lebenden sind für die Kommenden da. Ihr Auftrag lautet, dem zu dienen, was nach uns auch noch Leben inmitten von Leben sein will, umgeben vom Wunder der Schöpfung und mit immer noch vielfältigsten Gestaltungsoptionen. Das ist nach dem Raub an Zukunftsmöglichkeiten, die wir durch unsere Art zu leben und zu konsumieren zu verantworten haben, zweifellos unsere Bringschuld. Der verlorene Sohn, der im Gleichnis, das Jesus erzählt, so vieles ichbezogen und sinnlos verschleudert hat, ist gefordert, sich aus der Grube der Verlorenheit zu erheben. Er schüttelt den Schmutz ab und macht sich auf – nach Hause, zu der Heimat des Heils, aus der er einst entfloh.
Darauf gilt es sich auszurichten, dort wartet Erfüllung. So mag auch unsere wahre Sehnsucht, die sich nach Ganzheit und eine umfassende Liebe streckt, aus ihrer Verdinglichung geholt und ein wenig gestillt werden.

Was getan wurde, was wir versäumt haben, es lastet auf uns. Und doch ruft die Zeit dazu auf, sich von dieser Beschwernis zu befreien. Wir benötigen alle Energie für eine erfüllte Gegenwart und den liebenden Aufbruch in das neue Land. Und so gilt es, sich nicht zu sehr zu sorgen um das, was gestern war. Gewiss, es braucht die Erinnerung, vor allem auch, damit die verhängnisvollen Momente der Geschichte sich nicht wiederholen. Jedoch möchte ich mich nicht in der Klage ob meiner Schuld oder der von anderen verlieren. Vielleicht ist es sogar Zeit, die Kategorie „Schuld“ in diesem Kontext selbst zu überwinden und sich immer neu in die Schönheit des Seins an sich hineinzuleben. Wir erwählen eine Blume aus dem Strauß der buntesten Möglichkeiten und pflegen sie. Kann es eine bessere Antwort auf unsere Blockaden in der Vergangenheit geben? Die Entschiedenheit dazu schulde ich meiner Selbstachtung, die Tapferkeit, notwendige Schritte dann auch wirklich zu gehen, meiner Würde. Billig ist diese allerdings nicht zu erlangen und zu halten. Doch ohne sie entfaltet sich kein menschliches Leben, das diesen Namen verdient. Tiere und Pflanzen haben die Würde an sich, unbewusst und gnadenhaft gegeben. Aber sie verfügen nicht über die Freiheit, sie zu verletzen. Wir Menschenwesen haben beides, und so müssen wir in jedem Moment unseres Seins um ihre Reinheit und Unschuld neu ringen. Vielleicht verstehen wir dann irgendwann, dass die Wahrung unserer eigenen Würde an der Respektierung derer eines jeden anderen Lebens, auch des nichtmenschlichen, hängt. Dann sind wir im Begriff, das neue Land zu betreten.

Zum Anhören klicken Sie bitte hier
Wenn Sie meinen Blog abonnieren möchten, klicken Sie bitte hier