Nicht zu nahe…

ClausAllgemein

Es liegt im tiefsten Wesen eines Jeglichen, auf sein eigenes Ende zuzugehen. Oftmals führt dieser Weg durch die Tiefen von Verletzung, Leid und Entbehrung. Und nicht selten erschüttert das die betroffenen Menschen im Kern ihres Selbstverständnisses. Dass uns als Beobachter, möglicherweise Mitbetroffene, Angehörige oder einfach nur Mitmenschen dies gleichfalls nahegeht, resultiert aus einer unserer schönsten Gaben, der Empathie. Manchmal weitet sich diese, je nach der Nähe, in der wir zu einem Menschen stehen, in wahrhaftiges Mitleiden hinein. Ohne diese Gefühls- und Seelenregungen würde der Menschheitsraum erkalten und irgendwann sogar seine Fähigkeit verlieren, neues Leben hervorzubringen. Doch scheint die Frage nicht obsolet, welche Nähe und Tiefenschärfe wir den Berührungen aus der Schmerz- und Sorgenwelt zugestehen dürfen. Denn Nähe ist nicht nur ein kostbares humanes Attribut, sie vermag auch zu lähmen, ja in einen Sog zu ziehen, der aus der Mitte unseres Wesens führt.

Hinter vielen Erfahrungen auf dem Lebensweg stehen Umstände und Verhältnisse, zu denen wir nichts können und auf die wir auch wenig bis gar keinen Einfluss zu nehmen in der Lage wären. Sie sind nun einmal da, beeinflussen mich, aber repräsentieren deswegen noch lange keinen Teil von mir. Entsprechend möchte ich ihnen nicht zugestehen, zu nahe an mich heranzutreten.

Unsere Lebensrolle spielen wir innerhalb der uns gegebenen Bedingungen. Zugleich bleibt es aber eben eine auf die sogenannten Verhältnisse und eine entsprechende Mitwelt hin gerichtete Rolle. Von den Verlusten, die ich in diesem Spiel möglicherweise erleide, wird der Seelengrund nicht getroffen, auch wenn der Empfindungskörper vor Schmerzen schreit. Oft folgt aus solchen Erfahrungen eine sich immer frühzeitiger aufbauende Verlustangst, die auf dem weiteren Lebensweg begleitet. Sie verunsichert, macht übervorsichtig und blockiert Offenheit. Chancen zum inneren Wachstum, gerade auch innerhalb der Erfahrung des Verlustes, rücken aus dem Wahrnehmungs- und Handlungsfeld.

Verlustangst hat diverse Gründe. Unsichere Bindungsmuster, die oft bis weit in die Kindheit zurückreichen und die nicht selten auch in Bindungsangst münden, gehören an vorderster Stelle dazu. Schlagartig erhebt sie sich aus dem Nichts, wenn ein schwerer Schicksalsschlag uns trifft. Doch es geht nicht nur um zwischenmenschliche Beziehungen. Auch Status, Besitz, Anerkennung und Wertschätzung sind mit im Spiel. Als eine alles überschattende innere Verunsicherung lässt Verlustangst kaum einer frischen Lebensblüte Entfaltungsmöglichkeiten, und sie mag gar in Resignation oder grundlegend lebensfeindlicher Verbitterung münden. Gleichwohl hat sie, wenn ein Mensch ihre Ursachen und ihr Wesen als unbewusste Schutzstrategie einmal erkannt hat, das Potential für ein tieferes Lebensverständnis, ja eine unerschütterliche Weisheit. Dann durchschaut sie nicht nur die ggf. toxische Qualität, die in jeder Beziehung und jeder Anhaftung potentiell lauert, sondern transzendiert sie zu Freiheit in einer wertgeschätzten Verbindung. Schließlich weist sie den sich sorgenden Menschen darauf hin, dass er das Wesentliche und Essentielle nicht verlieren kann. Denn es umgibt ihn als personales und zugleich transpersonales seelisches Feld und als zeitloser Seinsgrund allenthalben.

Wenn wir von den Bedingungen sprachen, in die wir gestellt sind und in deren Rahmen wir handeln, so sollte dies nicht als blinde Hinnahmebereitschaft hinsichtlich dieser Bedingungen missverstanden werden. Gegen so Manches, was man als den Umständen geschuldet, verharmlost, müssen wir rebellieren. Unrecht, Armut, Hasskulturen und Verbrechen an der nichtmenschlichen Mitwelt sind hier zu nennen. Aber zum Leben an sich in seinen Gegebenheiten, Koordinaten, Grenzen, seiner Unberechenbarkeit und trotz aller Beschränkungen doch immer auch gegebenen Möglichkeiten gilt es JA zu sagen. Nur dann kann daraus das folgen, was wir mit dem Wort „Erfüllung“ umschreiben.

Täglich gibt es unbekanntes oder vielleicht sogar bislang angstvoll und bewusst gemiedenes Land in unserer Innen- und Beziehungswelt zu entdecken. Gelegenheiten bieten sich, ungute Gewohnheiten über Bord zu werfen, sich vielleicht grundlegend neu zu erfinden. Und statt endloser Klage über Gewesenes und Verlorenes und damit einhergehender Verbitterung, gilt es nach der notwendigen Trauer Dankbarkeit dafür zu entwickeln und auszusprechen, dass das heute Vergangene eine Zeitlang in meinem Feld sein durfte und sich Begegnung ergab. Ansonsten kommen wir schnell nicht mehr aus der Spirale heraus, in der das eigene Leben fast nur noch an Verlusten oder an Unerfülltem gemessen wird. Die Bedeutung unseres irdischen Seins können wir dann wohl nicht mehr verstehen.

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