Welt und Überwelt

ClausAllgemein

Im Januar 1943 schreibt der Pfarrer, Arzt und Künstler Kurt Reuber (1906-1944) aus dem umzingelten Kessel von Stalingrad an seine Frau über die Sehnsucht nach Licht, Leben und Liebe. Er spricht von ihr als einer unendlichen, elementaren und erdgebundenen Sehnsucht, die sich in jedem Menschen anders regt und zeigt. Dann jedoch vermag sie sich zu wandeln in „die geistige Sehnsucht, diese notvolle Sehnsucht nach einer Überwelt, die der Erde treu bleibt und sich doch aus ihr erhebt…eine Sehnsucht nach allem, was äußerlich so wenig da ist und was am Ende nur in unserem Innersten geboren werden kann.“

Überwelt, Anderswelt, Reich des Geistes, Jenseits – das sind Worte, die viele Menschen mit dem verbinden, was man in alter Sprache „fuga mundi“ nannte: Weltflucht, ein sich äußerlich und innerlich Ablösen von dem Getriebe des Alltags, indem man sich auf das Jenseits hin orientiert und vertröstet. Reuber, der 1944 in russischer Kriegsgefangenschaft im Lager Jelabuga starb, weist demgegenüber allerdings auf das Wesentliche hin; der Erde treu bleiben und sich doch aus ihr erheben. Es geht also in keiner Weise um einen virtuellen Fluchtraum aus einem als unerträglich empfundenen Sein. Es geht in keiner Weise um das Eintauschen der sogenannten Realität für ein Traumgespinst. Es geht vielmehr um die Anerkennung und das Sich-Strecken nach jener Wirklichkeit, die immer schon da ist, neben der oberflächlich sinnlich-empirisch wahrnehmbaren „Welt der Erscheinungen“ (Kant). In jener Wirklichkeit ist alles eingebettet. Sie stellt in einem tieferen Sinne unser Fundament dar und zugleich unseren Unendlichkeitsraum, in den hinein wir uns sehnend ausdehnen. Mag unsere Kultur es auch geschafft haben, den Menschen sehr weitgehend zu verdinglichen und ihn in ein Wirklichkeitsverständnis hinein zu reduzieren, das in einem billigen Sinne materialistisch ist.
In einem tieferen Sinne ist die „Überwelt“ die Wirklichkeit an sich – aus ihr wird alles geboren. Sie zu spüren, erweckte einst die Sehnsucht des Menschen und schuf den Ausgangspunkt für die Religionen aller Kulturen –  von den Natur- bis hin zu den monumentalen Geistgebäuden der sogenannten Hochreligionen. Diese Welt kann nicht wegbrechen, nicht verbrennen, nicht in den Fluten versinken. Sie ruht tief in uns, ist die eigentliche, den Tod übersteigende Heimat.
Das Sein der Überwelt folgt wie alles dem kosmischen Grundsatz der Resonanz. Wir können uns nur nach ihr sehnen, weil sie ist, auch wenn die Augen des Leibes sie zu erforschen nicht in der Lage sind. Dazu bedarf es der gereinigten Augen des Geistes, der Seele und des Herzens.
Sehnsucht im Menschen kann nur bestehen durch ein existierendes Korrektiv, aus dem sie hervorging. Wäre diese koexistierende Seins-Energie nicht, wie könnte sie in uns brennen und uns ziehen?
Illusionen platzen und verwehen. Das Wissen und die Gewissheit um die Überwelt, um die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit, die Stille hinter der Stille aber macht uns erst zum Menschen, der sich seiner wahren Identität bewusst ist – als Wesen, in zwei Dimensionen beheimatet, die im Urgrund doch eins sind.

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