Friedfertigkeit, wie sie die Bergpredigt anmahnt, zählt zu den überzeitlichen und über den Kulturen stehenden oberen Geboten – genau wie Mitgefühl und Versöhnung. Doch was, wenn das Zusammenleben von Menschen und von Völkern durch bewusste und gewollte gewalthafte Aktionen durchbrochen wird? Kann eine Feindesliebe auch nur gedacht werden, wenn brutale, vorzivilisatorische Gewalt das Leben schändet? Gibt es dann eine gerechtfertigte Gegengewalt, ein Recht auf Notwehr und Widerstand auch mit gewalthaften und der Dimension des Angriffs gleichgestellten militärischen Mitteln? Müsste ein solches Recht nicht sogar als Pflicht proklamiert werden, wenn unschuldiges und wehrloses Leben attackiert wird?
Jede pauschale Antwort wäre ein Irrtum. Als letzte Prüfinstanz rangiert immer das persönliche Gewissen und darauf bezogen die persönliche Bereitschaft und Fähigkeit zur Unterscheidung.
Primär gilt, nie Ausgangspunkt von Gewalt zu sein. Gewalthafte Handlungen zu initiieren, mit welcher Begründung auch immer, trifft den Geist des Nichtverletzens ins Herz. Es entzieht friedensstiftenden Folgehandlungen den Boden der Wahrhaftigkeit. Wer angreift, unterläuft seine Kraft zu heilen, im zwischenmenschlichen wie im interstaatlichen Bereich. Unter dem Primat des Heilens verbietet sich zudem die Empfindung von Hass, macht dieser doch nicht nur erfinderisch für Gewaltbegründungen. Er wendet sich immer gegen alle Seiten – auch den Menschen, der hasst und die davon zerfressene Person selbst. Er zerschlägt letztendlich, was wir Kultur nennen.
Viele Konflikte erfordern Geduld. Sie richtet sich auf langfristigen „Erfolg“. „Gib nach und sei siegreich“ lehrt das Tao te King (22). Und dies ist auch der Sinn des jesuanischen Gebots: „Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh zwei mit ihm.“ (Matthäus 5,41)
Wenn bedrohtes Leben Aufbegehren zur Pflicht macht, liegt Kampf allerdings nicht im Widerspruch zur Geduld und auch nicht zur Hinnahme. Gerade in der Person Jesu wird diese Einheit deutlich, wenn wir etwa an die Hinnahmebereitschaft im Prozess vor dem Hohen Rat und auf der anderen Seite an die Tempelreinigung denken. Sanftmut und klare Handlungen verschmelzen. Und der Prophet der Gewaltlosigkeit, Mahatma Gandhi, schreibt in seinem Buch „Freiheit ohne Gewalt“: „Meine Gewaltlosigkeit erlaubt es nicht, vor der Gefahr wegzulaufen und seine Lieben ohne Schutz zu lassen. Wenn die Wahl zwischen Gewalttätigkeit und feiger Flucht zu treffen ist, dann ziehe ich die Gewalttätigkeit vor…Ich begann Gewaltlosigkeit erst dann zu schätzen, als ich meine Feigheit aufgab.“
Diese Haltung stellt sich dem Unrecht, weicht ihm nicht unter dem Vorwand der Sanftmut feige aus. Kann es doch ein Zu-Spät geben gegenüber der brutalen, verrohten und auch triebgeleiteten Gewalt.
Jede Tat im Namen der Verhinderung von schlimmerem Übel setzt nicht nur den Gebrauch moralisch einwandfreier Mittel voraus. Sie ist auch beschränkt auf die Gewaltverhinderung, die Gewalteinschränkung und die Notwehr als Naturrecht. Dieses Recht beinhaltet allerdings keinen Anspruch auf Vergeltung. Gerechtigkeit und Rache sind unvereinbar. Gleichzeitig bleibt die aus der edelsten Haltung heraus praktizierte Gewalt ein Übel. Deshalb darf der Erfolg von Gegengewalt nie Grund von Freude sein. Denn auch er fordert Opfer.
Das Recht auf Notwehr und Widerstand ist ein Ausnahmerecht. Als solches ist es unumstrittener Teil des evolutionären Weltprozesses, genau wie die jederzeitige Eintrittsmöglichkeit des „Bösen“. Freiheit umschließt Beides. Und sie trägt in sich die Wahrscheinlichkeit von Irrtum und Scheitern; Irrtum hinsichtlich der Angemessenheit von Gegengewalt; Scheitern, was die mit der Gegengewalt letztlich intendierte Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit anbelangt. Auf Dauer, so der Blick aus den Augen der Weisheit, wird das Zarte und Schwache siegen. Denn es ist das, was im Kleinsten Leben erhält und nach jeder Zerstörung irgendwann wieder aufkeimen lässt. So betrachtet, vernichtet in letzter Konsequenz das Gewalthafte sich selber – durch seine Lebensfeindlichkeit, die sich schließlich gegen sich selber richtet.
In einer zutiefst gewalthaften Welt stehen wir, was die Frage von Gegengewalt und Widerstand betrifft, vor einem unlösbaren Dilemma. Diese Frage ist heute nochmals grundlegend anders zu betrachten als zu Zeiten Jesu oder auch zu Zeiten von Mahatma Gandhi. Denn in der Gegenwart liegt im schlimmsten Falle immer eine Eskalationsstufe im Bereich des Denkbaren, bei der es um die Verwüstung eines großen Teils der menschlichen Welt und der Erde geht, etwa durch Atomwaffen oder auch Ökozide, wie im brasilianischen Regenwald. Für solche Fälle, in denen es eigentlich keine Zeit mehr für trödelnde Verhandlungswege gibt, ist Widerstand gegen die Verantwortlichen Pflicht – im Namen des gesamten planetarischen Lebens. Doch was kann das bedeuten?
Die Geschichte hält hierfür seit Urzeiten den „Tyrannenmord“ im Repertoire des Notwendigen, bevor ganze Völker in kriegerischen Auseinandersetzungen ausbluten. Aber ist das die Ultima Ratio, der letzte Ausweg?
Zumindest zwei Alternativen wären am Beispiel der Ukraine zu bedenken, wobei es mir darum geht, auch das in den Horizont zu nehmen, was Mainstream-Strategien erst gar nicht wahrnehmen und was von genau diesem Mainstream wohl weggelächelt wird:
Politische und religiöse Führer der Erde reisen in das umkämpfte Land und halten Mahnwache im Zentrum von Kiew. Und sie laden Putin dazu. Dann könnte etwas entstehen, das zuvor nicht zu denken war! Was ist daran eigentlich realitätsfremd? Und warum gehen nicht Papst Franziskus und der von Putin verehrte Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrril I., vorneweg? Gibt es einen bedeutenderen Auftrag von Kirche als Frieden stiften? Und warum muss sich der Ort des rhetorischen Wirkens auf den eigenen Palast beschränken?
Schließlich ist eine Option, die Aggression hinzunehmen, um Opfer zu vermeiden, nicht ein ganzes Land verwüsten zu lassen, nicht die Völkergemeinschaft schrittweise hineinzuziehen. Nachgeben in der Gewissheit, dass die Verfangenheit im Moment und eine langfristige Entwicklung sich durchaus auf grundlegend Verschiedenes richten können. Auf Dauer bricht das weiche Wasser immer den harten Stein, auch wenn wir hier in anderen zeitlichen Dimensionen als den alltäglichen denken. Allerdings kann in der Hinnahme keine Option gesehen werden, wenn es um die systematische Zerstörung der Erde und die Vernichtung der Arten geht. Da braucht es massivsten Druck und Widerstand von allen denkbaren Seiten.
Wenn wir die Wahl hätten zwischen Tyrannenmord, einem exemplarischen Handeln von Führung, Hinnahmebereitschaft eines Volkes und vielleicht etwas bislang noch gar nicht Gedachtem – was böte dem einzelnen Menschen Orientierung?
Nur das zur Unterscheidung fähige Gewissen bleibt hier – allerdings nicht lediglich das rein subjektive persönliche, sondern das, was sich als Teil des Weltgewissens sieht, empfindet und entsprechend in uns zeigt.
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