Tanzende Tränen. Die heilige Paradoxie der Sehnsucht

ClausAllgemein

Angesichts zerfließender Gewissheiten melden sich in der gegenwärtigen Weltzeitstunde verstärkt die uralten Fragen zu Wort:
 
Wo ist da Sinn, wo leuchtet Orientierung, was gibt Halt?
Was bleibt, da absehbar ist, dass des Menschen Tun ihn mit Folgen konfrontiert, die das kulturelle und zivilisatorische Fundament erodieren lassen?
Welche Kraft stärkt im Hindurch?
Was führt in eine neue Zeit, wenn all die äußeren Dinge ihren Glanz verloren haben?

Seit je wirkt eine Urkraft, die uns durch die Evolution begleitet und, wenn wir es zulassen, wachsen lässt. Es ist die Sehnsucht. In ihr findet jegliche Frage eine Antwort. Denn der Mensch wird Mensch erst durch sie – die ihn in seine Tiefe führt, zu der Potentialität, die in ihm ruht. Sie lockt ihn über das Gegenwärtige hinaus. Zu dem Größeren hin. Dann streckt er sich nach dem, was ihn unendlich übersteigt, und dessen Teil er zugleich ist. Es kann doch nicht sein, dass wir unsere Maßstäblichkeit allein aus uns selber bestimmen…

Die Sehnsucht stellt in eine unstillbare Unendlichkeitsdynamik. Maßlos und unerschöpflich fließen die Sehnsuchtsströme des Menschen durch das Leben. Oft geraten sie auf Abwege, folgen Irr- und Scheinlichtern, verlieren sich in der Jagd nach Äußerlichem, nach Dingen, nach Beziehungen und nach Bezügen. Doch letztlich steht hinter jedem dieser Begehren, hinter jeder Suche, jedem Sehnen das Absolute, der Ursprung, die Quelle von Sein und Werden. Man nennt es mangels Wissen und Vorstellung schlicht „Gott“ oder „Das Göttliche“. Darauf richtet sich der Drang zur Vereinigung, als Wechselspiel in einem unendlichen Feld der Resonanz zwischen dem „Himmlischen“ und dem Menschlichen. Ein anonym gebliebener schottischer Kartäuser aus dem 14. Jahrhundert, der Verfasser der „Wolke des Nichtwissens“, bringt diese Wechselbeziehung in dem Satz auf den Punkt: „Der Zugang zum Himmel ist die Sehnsucht.“

Erst diese Sehnsucht verhilft dem Menschen zu seiner wahren Würde. Sie lässt ihn aufrecht gehen, trotz allem, was an ihm zerrt und zieht und trotz allem, was ihn zu mindern sucht. Sie ruft aus dem Exil der Ich-Bezogenheit und der flüchtigen Geschäftigkeit. „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir“ notiert Aurelio Augustinus in seinen „Bekenntnissen“.

Auch wenn wir Menschen es nicht immer wahrhaben wollen und wir uns auch immer wieder abwenden bzw. ablenken: Die Absolutheitssehnsucht ist uns als Lebenskraft ins Herz gelegt. Obwohl zeitliches Geschöpf, hebt sie uns zugleich aus der Zeitlichkeit und der damit verbundenen Enge. Sie will das Ewige und Unendliche inmitten des Gegenwärtigen berühren. Und so leben wir in einer dauerhaften Spannung zwischen „Schon Jetzt“ und „Noch Nicht“.

Doch woher stammt des Menschen Sehnsucht eigentlich? Wir sagten, sie sei ins Herz gelegt.
Hier verdichtet sich die Ahnung, dass es vor dem Erwachen der Sehnsucht des Menschen eine andere Sehnsucht gab und gibt: Die des Absoluten, des Göttlichen, nach Begegnung mit dem Menschen, nach Erkannt-Werden durch ein DU. So formuliert Augustinus, dass der Mensch die Sehnsucht Gottes sei, zu ihm hin geschaffen. Franziskus von Assisi bringt es auf den Punkt, wenn er ruft: „Was du suchst, ist das, was sucht!“ Und der islamische Mystiker Rumi richtet die Worte Gottes an den Menschen: „Dein Sehnsuchtsschmerz ist meine Huld an dich. In jedem Ruf „Oh Gott“ sind hundert Rufe: „Hier bin Ich…“

Das Absolute lässt sich nicht greifen, nur ersehnen – bis tief hinein in die dunkle Nacht des Nichtwissens, die allerdings zugleich der Raum einer transzendenten Gewissheit ist. Diese kann den Menschen tragen, weil das Sehnen seinen Ursprung in dem Ersehnten hat. Somit wird es Ausdruck der jederzeitigen Gegenwart des Göttlichen. Und so bewegen sich im Sehnsuchtstrieb des Menschen beide aufeinander zu. Sie ziehen sich gegenseitig an. Das Unendliche wird zur Nähe – und in dieser scheinbaren Paradoxie liegt das große heilige Geheimnis.
In anderen Worten: Das Sehnen selbst berührt den Rand der Erfüllung. Im Zustand der Sehnsucht ist der Mensch auf eine gewisse Weise bereits angekommen, steht in Resonanz, in Beziehung. Das, was sich als Defizitempfindung regte, hält nun im gemeinsamen Raum von Zeit und Ewigkeit, von Immanenz und Transzendenz, von Menschlichem und Göttlichem. In kontemplativer Stille und Schau mag dieser Raum sich verdichten zu einer Energie des Erwachens und Erkennens – wortfrei, bildfrei. Und löst um dich herum so manches als Sicherheit Missverstandene auf. Es erblasst der Schein eines auf Vorläufigkeiten sich stützenden Seins. Du bist Zuhause. In dem, das keine Mauern kennt. Hier wartet eine überzeitliche Ruhe und Geborgenheit.

Im Land der Sehnsucht hast du Heimatrecht seit Urbeginn.
Dort gibt es nichts, was es nicht gibt.
Dort ist noch alles möglich.

Dort bist du nicht allein, denn tausend Hoffnungen begegnen sich,
und Schmerzen reichen sich die Hand.
Und absichtslos neigt Liebe sich der Liebe zu.
(zit. n. Josefine Grob, OSF)

***
Den Titel „Tanzende Tränen“ habe ich einem Gedicht von Rainer Maria Rilke entnommen:
Aus unendlichen Sehnsüchten steigen
endliche Taten wie schwache Fontänen
die sich zeitig und zitternd neigen.
Aber die sich uns sonst verschweigen
unsere fröhlichen Kräfte
zeigen sich in diesen tanzenden Tränen.

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