Schwarzer Kairos

ClausAllgemein

Die Vorstellung, das Bewusstsein, ja die Gewissheit einer qualitativen Zeit, die potentiell in jedem Moment alles enthält, ist faszinierend und existentiell fordernd zugleich. Kairos, diese mythische und heilsgeschichtliche Gestalt, ruft den Menschen zu:
Verliere dich nicht in der Vergangenheit, träume dich nicht weg in eine Illusion, die Zukunft heißt. JETZT ist deine Zeit. Wandle die Blickweise um zu erkennen, was alles bereitet vor dir liegt. Greif zu und gestalte.

Kairos
kann in diesem Sinne gelesen werden als Hoffnungszeit, Diaphanie, durchscheinendes Licht und Heil. Leicht wird dabei die radikale Herausforderung übersehen, die in der Notwendigkeit liegt, Kairos-Momente unmittelbar zu ergreifen und sie nicht unbemerkt und ungenutzt vorüberziehen zu lassen. Als mythische Figur wurde Kairos deshalb in der Antike auch gerne auf Messers Schneide tanzend dargestellt. Acedia, als die Trägheit des Herzens und der Sinne sowie fehlende Wachheit, ist sein Todfeind. Schließlich: Wir sprechen hier von einem Zeitfenster purer Möglichkeit. Diese hält grundsätzlich unterschiedlichste Optionen bereit. Gewiss nicht nur jene, die wir als segensreich bezeichnen.

Kairos als Schicksalszeit hat biographische und personale Bedeutung. Seine Herausforderung gilt allerdings gleichfalls Systemen, Völkern und Kulturen. Auch sie sehen sich mit jenen besonderen Phasen konfrontiert, in denen die Weichen gestellt werden für eine sonnige Zukunft oder den Sturz ins Verderben.

Die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts können wir heute als Kairos-Zeit sehen. Krisen überzogen und erschütterten das Land. Das Volk war gespalten. Reichtum, beschämende Verarmung und Massenarbeitslosigkeit standen sich gegenüber. Die neue und noch junge Demokratie wurde von innen ausgehöhlt. Nur wenige stellten sich dem nationalsozialistischen Siegeszug und der damit einhergehenden Verrohung entgegen. Die Masse nahm hin und lief mit. Als das Fenster der Potentialität sich schloss, war es bereits mit schwarzen Vorhängen verhüllt.

Hundert Jahre später hat sich das Schicksalsfenster wieder geöffnet. Mit den Erfahrungen des großen Krieges, der Shoah und unvorstellbarer Zivilisationsbrüche; mit der Erfahrung eines jungen aufstrebenden Landes, dem die Völkergemeinschaft vergeben und die Hände gereicht hatte; mit dem Wissen darum, dass tiefenkulturell ganz Wesentliches der dunklen Vergangenheit nicht bearbeitet wurde; mit der aufsteigenden Gewissheit im Lande, dass nichts so bleibt und wird, wie man es gerne hätte; umgeben von Krisen, die beginnen, das Land zu erschüttern und zu spalten. Mit all diesem, und noch manches wäre hinzuzufügen, sehen wir zwar ein anderes Deutschland als jenes der Weimarer Republik. Wir erleben gewiss kein reines Déjà-vu. Aber es gibt schreiende Auffälligkeiten.

➤ Stetig wächst der Antisemitismus. Gewiss, heute ist er massiv verbreitet in migrantischen, vorwiegend islamischen Milieus; zeigt er sich in vorgeblich antikolonialistischen „linken“ Gruppierungen. Aber seine Jahrhunderte alte Heimat inmitten des deutschen Bürgertums hat er nie ganz verlassen.

➤ Der äußere rechte Flügel in der Parteienlandschaft wächst in atemberaubender Geschwindigkeit. Die Grenzen zwischen rechtskonservativem und nationalsozialistischem Gedankengut verschwimmen.

➤ Die Verrohung in Deutschland nimmt spürbar zu. Selbst der Respekt gegenüber denen, die allen dienen, wie Rettungskräfte, Ärzte und Polizisten schwindet in Teilen der Bevölkerung und kehrt sich um in gewaltbereite Aggression.

➤ Eigeninteressen werden ohne Gemeinschaftssinn verfolgt; das Meinungsklima präsentiert sich zunehmend unerbittlich.

➤ Wir haben einen Punkt erreicht, an dem spürbar wird, wie dünn die zivilisatorische Haut ist. Das zeigt sich besonders dann, wenn es um die eigenen materiellen und ideologischen Besitzstände geht bzw. das, was man dafür hält. Es zeigt sich, wenn das unbearbeitete und unerlöste eigene Innere sich in einer allgemeinen Unsicherheit und einem allgemeinen Missmut wütend und aggressiv nach Außen kehrt. Dann werden Sündenböcke herbeigeschrien – Migranten, Juden, alte weiße Männer und was alles noch der tumbe Flachsinn sich ausdenkt.
Margot Friedländer, Jahrgang 1921, eine deutsche Holocaust-Überlebende und Humanistin im edelsten Sinne, mahnte kürzlich in einem Fernseh-Interview: „So hat es damals auch angefangen.“

Kairos, so stelle ich mir vor, steht bei alldem inmitten. Verzweifelt zeigt er auf die Fülle des Schönen, die doch immer noch vor den Menschen liegt und die nur ergriffen und segensreich als Samen für das Neue ausgestreut werden will. Kaum jemand allerdings nimmt ihn wahr, will wirklich verstehen, was geschieht und welche Möglichkeiten in jegliche Richtung – als Versprechen, aber auch als Drohung – noch vorhanden sind. Und so breitet sich das Dunkle ungestört in den offenen Zukunftsraum aus. Dann mag man sich an Hannah Arendt erinnern, als sie bezogen auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus nüchtern konstatierte:
„Wenn wir nicht wirklich verstehen, wird sich Geschichte wiederholen.“

Wir leben nicht in den 1920er Jahren. Aber die Melange, die sich im Moment zusammenbraut, kann wider aller Einsicht eines großen Teils der Bundesbürger eine Dynamik annehmen, die ins vollkommen Unkalkulierbare kippt. Sie wird dann auch durch noch so viele wohlmeinende und warnende Worte und die Flut an blutleeren Sonntagsreden unserer Repräsentanten kaum noch zu steuern sein. Erhobene Zeigefinger und eine selbstgerechte Symbolpolitik in brennenden Politikfeldern halten dann nichts mehr auf – richtet sich die Wut doch gegen das System selbst. Dann braucht es Klarheit und Führung, braucht es Reaktions-, Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit – wenn auch nicht in Gestalt eines „Führers“.

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