Täter wie uns

ClausAllgemein

Ein Gastbeitrag von Christoph Roderig, Münster  

„Nie wieder ist jetzt!“, heißt es auf Plakaten, die bei Demonstrationen gegen das Erstarken von Faschismus, Rassismus, Hass und Hetze gegen Andersdenkende, Andersglaubende und Andersliebende in Deutschland hochgehalten werden. Gerade wurde auch wieder der Opfer gedacht. Am 27. Januar an die Befreiung des Konzentrationslagers Ausschwitz. An die Täter und Täterinnen, ohne die dies nicht möglich gewesen wäre, denkt kaum noch jemand.

Dabei muss es eine unglaubliche Menge an Tätern gewesen sein. Von Amokläufen wissen wir, dass eine einzelne Person bei entsprechender Bewaffnung 30 oder 40 andere töten kann. Eine Tätergruppe von vier oder fünf Personen bringt es danach auf 120 oder 150 Opfer. Nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben einige Dutzend Mörder weit mehr als 1.000 Menschen auf dem Gewissen.

An jedem 27. Januar gedenkt Deutschland mehr als 6 Millionen ermordeter Menschen. Wie viele Mörderinnen und Mörder braucht es für mehr als 6 Millionen ermordeter Menschen?
„Nie wieder ist jetzt!“
Werden wir der Entschiedenheit dieser vier Worte gerecht, indem wir der Opfer gedenken? Ist uns zur konsequenten Umsetzung dieser Erkenntnis nicht viel mehr geholfen, wenn wir uns mit Tätern auseinandersetzen? Tätern wie uns?

Unsere Eltern und Großeltern sind nicht 1933 eines Morgens wach geworden und haben sich gesagt: „Ab heute hassen wir Juden und schauen uns deren Vernichtung an – machen vielleicht sogar mit!“
„Die meisten haben das mit den Juden damals doch gar nicht mitbekommen!“, behauptete mein Vater, Jahrgang 1927, im Vier-Augen-Gespräch, als ich 12 Jahre alt war und ihn danach fragte. Es hat 40 Jahre gedauert und Vater war bereits 32 Jahre tot, als ich abschließend gewiss wurde, dass das gelogen war.

Die Gedenkstätte im Haus der „Wannsee-Konferenz“, in der die „Endlösung der Judenfrage“ durch die Nazis besprochen und beschlossen wurde, hat nur dieses eine Thema: „Alle haben es gewusst!“ Gut 32 Jahre nach dem Tod meines Vaters bin ich dort ausschließlich an Beweisen dafür entlanggelaufen, dass es praktisch unmöglich war, als Bürger dieses Landes in den Jahren 1933 bis 1945 nicht „mitbekommen“ zu haben, dass in pervers industriellem Format große Teile des deutschen Volkes verschleppt und vernichtet wurden. Beobachtet und in beachtlichem Umfang begleitet durch Täter wie uns.

„Wissen Sie, das große Problem ist, dass man Hitler als das absolut Böse darstellt“, sagt im Jahr 2017 ein deutscher, demokratisch in ein Parlament gewählter Politiker dem renommierten „Wall Street Journal“ in New York. Was sonst soll Adolf Hitler gewesen sein, als das absolut Böse? Wiederum der Vorsitzende derselben Partei spricht nur ein Jahr später von einem „Vogelschiss“, der der Nationalsozialismus im Kontext der gesamten deutschen Geschichte war. Vernachlässigenswert, nicht der Rede wert, dieses Dutzend an Jahren des Terrors, des Hasses, der Hetze, des industriellem, unerträglich potenziertem Massenmords an Arbeitskollegen, Nachbarn, Mitschülerinnen und -schülern. Durch Täter wie uns.

Der ältere Herr, der uns 2022 durch den riesigen Gebäudekomplex des stillgelegten Flughafens Berlin-Tempelhof führt, macht dies ehrenamtlich. Entstanden ist dieses architektonische Meisterwerk in den Jahren 1937 bis 1941, entlang der Pläne des Architekten Ernst Sagebiel.
Mehrmals wiederholt unser Führer, dass der Architekt Ernst Sagebiel zwar „leider ein strammer Nazi“ war, aber darüber hinaus halt auch „ein Wahnsinns-Genie“. „Auf das Hauptgebäude hat der Sagebiel im Halbrund eine Tribüne für über 100 000 Menschen bauen lassen! Für Flugshows und solche Veranstaltungen!“, strahlte er. Ja, mag man denken, Flugshows und solche Veranstaltungen… Reichsparteitags-Flugshows, Machtergreifungs-Flugshows, Progrom-Flugshows, Endlösungs-Flugshows – sowas …
„Doch gar nicht mitbekommen.“, „Nicht nur das absolut Böse.“, „Vogelschiss“, „Leider strammer Nazi, aber wahnsinniges Genie.“

„Nie wieder ist jetzt!“ Der Wahnsinn mit Millionen ermordeter Menschen wird hier relativiert. Fängt es so an? Hat es damals auch so angefangen? Die Relativierung der Grausamkeit entlang der Bedeutung der Opfer für die Gesellschaft? Rekrutiert man auf diese Weise Täter wie uns? Von „wohltemperierter Grausamkeit“ gegenüber Menschen schreibt 2018 jener demokratisch in ein Parlament gewählte Politiker, der Hitler nicht als das absolut Böse anerkennen möchte, in einem Buch.

„Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist? Wollt Ihr mit dem gleichen Maße gemessen werden, wie Eure Verführer? Sollen wir auf ewig das von aller Welt gehasste und ausgestoßene Volk sein?“ Diese Zeilen an die, die von all dem nichts mitbekommen, verfasste die Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ in ihrem 5. Flugblatt im Januar 1943. Am 18. Februar 1943 wurden Hans und Sophie Scholl gestellt und in der Münchener Universität verhaftet, am 22. Februar 1943 gemeinsam mit ihrem Freund Christoph Probst zum Tode verurteilt und am selben Tag hingerichtet.

„Nie wieder ist jetzt!“ Wie verhindert man, dass es jemals wieder solche Opfer gibt? Millionen Opfer durch industrielle Vernichtung von Menschen, tausende Opfer über Hass und Hetze im Alltag, Denunziantentum, korrupte Justiz und ihre Vollstrecker?
Für solche Opfer braucht es Täter – Täter wie uns.

Nein, es ist keine Blaupause des III. Reiches, was sich nun für Deutschland abzeichnet. Es ist ein neuer Hass, eine neue Hetze, eine neue Niedertracht und ein neues, immer noch gleichfalls dummes, ungebildetes, unaufgeklärtes Böses.
Man mag ja meinen, dass wir in einem Zeitalter des Wissenstransfers leben, in dem es nicht möglich ist, Menschen so zu manipulieren, wie vor 100 Jahren. Das stimmt nur zur Hälfte, denn man mag sich auch einmal anschauen, welche Art von Wissen ebenfalls in atemberaubender Geschwindigkeit verbreitet und als Wahrheit zur Kenntnis genommen wird.
„Nie wieder ist jetzt!“ wird nur ohne Täter sichergestellt – ohne Täter wie uns.

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