Recht ungleich verteilt, existieren in jedem Menschen Anteile von Gut und Böse, von Wolf und Giraffe, von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Zumindest können wir das ab dem Beginn der sogenannten Zivilisation konstatieren. In jeder Generation leben Menschen, die durch und durch gut sind bzw. es wurden; wir nennen sie manchmal Heilige oder Wesen reiner Unschuld. Und genauso gewiss gibt es Menschen, die durch und durch böse sind bzw. es wurden – unheilbar dem Schädigungs- und Vernichtungsdrang zugewandt und ausgeliefert.
Gemeinhin ist es ein lebenslanges Ringen, mal mehr zur einen, mal mehr zur anderen Seite neigend. Daran und den manchmal heftigen inneren Kämpfen ist in der Geschichte der gesellschaftlich-kulturelle Rahmen wesentlich beteiligt. In außerordentlicher Weise zeigte dies das Volksversagen im Nationalsozialismus. Lassen wir diesen barbarischen Sonderfall und andere Formen von Massen-Rumor einmal außer Acht, rückt das engere soziale Umfeld, rücken Ich und Du in den Fokus.
Es gehört zu den uralten Einsichten in das Wesen der Selbstwirksamkeit, dass das, wovon wir im Innern zutiefst überzeugt sind, den Weg für das bereitet, was wir werden. Was wir suchen und wie wir suchen, hat maßgeblichen Einfluss auf Jenes, was wir finden. Was wir im Mitmenschen sehen und ihm entsprechend spiegeln, bestimmt mit, wie er ist und wird.
Was sehen wir im Anderen?
Wie gehen wir auf ihn zu, wie behandeln wir ihn?
Was stärken wir, was schwächen wir?
Wie blicken wir auf uns selbst?
Was stärken wir in uns, und was schwächen wir?
Wie nehmen wir den Blick anderer auf uns wahr, und was schwächt oder stärkt dieser Blick?
Albert Schweitzer folgend, kann als „gut“ das Lebensdienliche bezeichnet werden. Es fördert und befreit Potentiale und mindert sie nicht. Als „böse“ erweist sich demgegenüber das Lebensschädigende. Es vernichtet, blockiert Potentiale und ihre Entfaltung. Es sollte hinzugefügt werden, dass dieses schädigende Verhalten und die dahinter stehenden Intentionen willentlich und wissentlich geschehen. Für Fahrlässigkeit oder Unachtsamkeit etwa, bemühen wir nicht die Kategorie „böse“.
Die individuelle Freiheit des Menschen zur Entscheidung für Gut oder Böse findet ihre Einschränkung in den gewachsenen Strukturen einer Gesellschaft. In ihnen hat sich das Ungute in hohem Maße materialisiert.
Zu einem das Leben und die natürliche Mitwelt schädigenden Konsum etwa gibt es oft keine Alternative; die zur Vernichtung von Mensch und Umwelt bestimmten Waffensysteme werden mit den eigenen Steuermitteln bezahlt.
Solche, sowie die reichhaltigen anderen Formen struktureller Gewalt sind ökonomisch und politisch gewollt. Wir kommen als Teil des gesellschaftlichen Gesamt nicht daran vorbei, uns in ihnen und mit ihnen zu bewegen. So verbleiben wir, auch ungewollt, dem Bösen verhaftet, sind sehr weitgehend hilflos. Man kann vom Guten überzeugt sein und Gutes wollen und leistet doch dem Unguten Vorschub.
So sieht alles nach einer Sackgasse der menschlichen Evolution aus, wobei der englische Ausdruck „Dead End Street“ noch sinnträchtiger scheint. Gleichwohl verbleibt uns der Nahraum und all jenes Tun, das weitgehend in unserer Verfügung steht. Vor allem bleibt uns die Ausrichtung auf den anderen Menschen. Und hier gibt es keine Ausreden mehr.
Was will ich in Dir sehen? Was in Dir fördern? Was kann ich tun, dass es in Dir und durch Dich wird?
Behandle ich Dich als das Böse, stärkt es die entsprechende Resonanz in Dir und damit jenen Teil Deines Wesens. Werde ich Dich als Feind behandeln, werden sich die Gräben vertiefen.
Erspüre ich Deine schönen Wesenszüge und Deine Fähigkeit gut zu handeln und trete Dir respektvoll und wohlwollend gegenüber, wird es Deine zum Guten hin sich neigende Seite stärken.
Gleiches gilt im Blick auf mich selber.
Jesus sagt, wir sollen unsere Feinde lieben. Wäre es im persönlichen Umgang nicht noch wesentlich wichtiger alles zu tun, dass wir keine Feinde haben bzw. wir nicht Feindschaft hervorbringen?
So liegt viel an Jedem(r) von uns, Felder des Guten zu stärken und denen des Bösen Energie zu entziehen. Das macht die Welt nicht an sich gut, aber es macht sie potentiell dort, wo wir uns bewegen, besser. Es fördert die Liebe, schwächt Hass und Abgrenzung. Leise arbeitet es so an der Erosion nichtender Strukturen.
Vergessen werden sollte allerdings nicht, dass die Frage von „Gut“ und „Böse“ weit über den Menschen hinauszielt. Und so kann sie seriös nur beantwortet werden, wenn das gesamte Leben auf unserer Erde miteinbezogen wird. Dann jedoch wird es dunkel. Tief zeigt sich die überwältigende Mehrheit der Menschen in das Böse verstrickt: tötend, vernichtend, plündernd, ausbeutend, entwürdigend. Direkt und/oder indirekt. Jeder mag hier hinsichtlich seiner Konsum-, Ernährungs- und Lebensgewohnheiten ohne Sentimentalität und Selbstrechtfertigungen sein Urteil fällen.
Wie etwa würde die Tier- und Pflanzenwelt, wie die Böden, Flüsse und Ozeane den Menschen und sein Wirken auf einer Gutheitsskala von 0 bis 10 wohl klassifizieren?
Als an sich gut?
Wir müssen lernen, auf die Antwort zu hören. Denn es ist die Stimme des Lebens, dessen Teil wir sind.
Das Alte befindet sich in Auflösung. Nur inmitten des verbleibenden Lebens können wir dann noch Zuflucht und Heimat finden. Das erfordert Ehrlichkeit, Einsicht, Ehrfurcht und Mut.
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