Erzählungen malen Identitäten. Sie schaffen ein Feld der Geborgenheit. Während des Erzählens entsteht und wächst ein inniges Vertrauen in einen geschützten Raum hinein, zu dem niemand Zugang hat als der Erzählende und die Zuhörerin. Es ereignet sich eine Art Transformation, in der die Geschichte während des Hörens mit einem Teil der eigenen Biographie verschmilzt. Darin ist sie nun eingebettet, reichert den persönlichen Erzählstoff an und kann so verwandelt weitergegeben werden.
Das Innenleben einer Geschichte, von dem Erzähler entfaltet, erweitert und verselbständigt sich im Sozialraum von Stimme, Wortklang, Hörempfindung und seelischer Wahrnehmung. In jede Episode, der wir einen Klang geben, fließt unser momentanes SoSein ein. Es gibt dem Gesagten Gestalt und Färbung. Spiegelbildlich geschieht das im Wahrnehmungsprozess des Hörens. Von nun an wird die Geschichte nie mehr das sein, was im Augenblick des Erzählens seinen Ausdruck suchte.
Besonders gilt dies für Familiengeschichten und Generationenerzählungen, in die wir mit unserem Selbstverständnis untrennbar eingebunden sind. Der Erzählstoff hier zeigt sich allerdings oft äußerst fragmentarisch und nicht selten in sich gebrochen – je nach Erzählkultur, der Sprachfähigkeit, dem Lebensalter und der Lebenserfahrung derer, die eine Geschichte teilen. Wenn wir tief in uns hineinhören und unserem ganz eigenen Lebensnarrativ nachspüren, werden wir das Gebrochene und Fragmentarische aber nur selten wahrnehmen. Aus den Bruchstücken hat sich nämlich längst ein Eigenes gebildet. Es ist für uns in sich stimmig, solange wir nicht versuchen, es durch Informationen von Außen anzureichern, zu überprüfen bzw. gar zu hinterfragen. So hat etwa die intensive gesellschaftliche Aufklärung über das Geschehen in der Zeit des Nationalsozialismus so manche familiäre Erzähl- und Erinnerungsidylle zerstört. Und oft hat sie nur Fragen hinterlassen, wenn man sich denn überhaupt traute, sie mit sich und der Geschichte der Vorfahren in Verbindung zu bringen und nicht Halt suchte in einem Erzählstrang, den das Verdrängen übrigließ. „Es ist nicht alles schlecht gewesen, damals…“
Auch Vorfälle von lange totgeschwiegenen innerfamilialem Missbrauch und Gewalt wirken genau wie zugedeckte traumatisierende Schicksalsschläge so oft spät in das Feld eines lebensgeschichtlichen Bildes hinein. Mal mag es sich anfühlen wie ein nur verzögert wahrgenommener Vertrauensbruch, mal vielleicht wie die Demaskierung einer sentimental übertünchten Schreckensgestalt.
Obwohl intersubjektive Elemente in jeder Erzählweise verbleiben, gibt es keine objektive Geschichtsbetrachtung. Bei Familien- und Gemeinschaftserzählungen geht es allerdings auch nicht primär um das Ansinnen eines Wahrheitsanspruches, der sowieso niemals einzulösen wäre. Dieser Bewusstseinsraum lebt in getönten und jeweils besonders ausgeschmückten Weltwahrnehmungen und Eigensichten, die schon in frühen Kindertagen entstehen. Sie füllen die Identität.
Und genau dorthin, zur Identitätsbildung, weisen Berufung und Auftrag des Erzählens von Geschichten. Je vielfältiger und zugleich anschlussfähiger sie sind, desto reicher der identitäre Grundstock, desto gehaltvoller der Weitergabefundus eines kulturellen Erbes. Erinnerungen werden angereichert, Bedeutungen geschaffen und verändert, Verbindungen hergestellt, emotionale Bindungen aufgebaut und andere vielleicht abgelöst. Die Geschichte durch erzählte Geschichten lebt von der Berührung mit Seelenenergie. Über das Personale hinaus hält sie das Ahnenfeld mit im Spiel und in spürbarer Nähe.
Dem leibhaftigen Erzählen wohnt eine eigene Magie inne. Kein künstlicher Klang- und Bildraum kann ihr ebenbürtig sein. Präsenz der erzählenden Bezugsperson, ihre Ausstrahlung und Einzigkeit, die Einbettung in die Atmosphäre des Raumes, die Stimmung und der Tageszeit schaffen einen unersetzbaren und technisch nie zu erreichenden Lebens- und Erfahrungsmoment.
Kinder, aber vielleicht nicht nur sie, brauchen Geschichten, die in Verbindung gebracht werden mit der erzählenden Person. Damit sie für eine Weile ankommen und sich vertrauend fallen lassen können, eingehüllt in eine ganz eigene Welt, mit vielleicht auch eigenen Regeln und Hoffnungshorizonten. Solche Erfahrungen verdichten sich – unabhängig vom Erzählgehalt – zu einem eigenen biografischen Element, ja einem Teil der Persönlichkeit. Manchmal, selbst noch in hohen Jahren, mag dieses Element in eine tröstende Erinnerung führen und daran anschließende neue Dimensionen für das Jetzt öffnen – zumindest in den seltenen wirklich stillen Stunden.
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