Die Widersprüche akzeptieren und aushalten

ClausAllgemein

Es ist ja nicht so, dass nicht auch in früheren Jahrhunderten Kriege und Katastrophen die Erde überzogen hätten. Es gab jedoch wesentlich weniger Menschen. Die Welt war weniger komplex. Von dem, was sich außerhalb des erfahrbaren Nahbereichs ereignete, wusste man normalerweise nichts. Von kleinen Informationseliten, allerdings mit erheblicher Zeitverzögerung, vielleicht einmal abgesehen.
Heute werden wir mit Botschaften des Grauens in Echtzeit überflutet.

Ein Ausschnitt aus der uns aktuell so dargebotenen Welt, wohl wissend, dass sich gelegentlich Gegenläufiges regt, wenn auch ohne eine vergleichbare Relevanz und ohne nennenswertes Medieninteresse:

In mehr und mehr Ländern kommen Brandbeschleuniger an die Macht…
Niedere Machtinstinkte und Eroberungsphantasien, militärisch und ökonomisch, lösen einen feinen diplomatischen Umgang miteinander ab…
Es ist normal geworden, mit Atomwaffen zu drohen…
Kriegsverbrecher werden mit Waffen beliefert und nicht selten gar hofiert…
Unsummen fließen in Kriegstüchtigkeit…
Die allgemeine Brutalisierung, auch im Kleinen, nimmt stetig zu…
Klimaschutz gerät ins Hintertreffen…
Auf das Artensterben wird mit weiterer Ausbreitung des Menschen, Bodenversiegelung, Raubbaustrategien und Wachstumsinitiativen reagiert…
Eine gigantische digitale Ablenkungs- und Kontrollmaschinerie hält die Menschen im Bann. Sie saugt Interesse und Zuwendung auf, narkotisiert, blockiert Vernunft, Einsicht und eine Kultivierung der schönen Kräfte…

Eine solche Aneinanderreihung ist selektiv und holzschnittartig, gewiss. Aber sie ragt im Zentrum des Gegenwärtigen auf. Das Haben- und Behalten Wollen ist dabei der wesentliche Ursprung des Übels, auf allen Ebenen menschlicher Existenz; personal, kollektiv, kulturell, staatlich; Geistiges und Seelisches inbegriffen. Es wirkt wie eine eingebrannte, irreversible Programmierung unserer Spezies. Und wir werden den absolut desaströsen Konsequenzen der damit zusammenhängenden Muster, Codes und Reflexe nicht entrinnen können. Sie sind unser Schicksal in einem zu Ende gehenden Äon.

Doch auch Anderes steht:

Regungen der Liebe…
Entfaltung von Schönheit…
Hingabe- und Opferbereitschaft…
Verzaubernde Ästhetik…
Schöpferkraft…
Gestaltung und Öffnung geistiger Universen…

Beides bildet einen Widerspruch, der größer nicht sein könnte. Doch Beides gehört zu unserer Natur. Beides gilt es zu respektieren. Mit Beidem sind wir verurteilt zu leben. Das Schöne darf sich nicht vom Schrecklichen und Uneinsichtigen betäuben lassen. Auch wenn das Verhängnis sich auslebt, mindert das nicht den stillen Zauber der Blume am Wegesrand. Sie steht in sich ausbreitender Düsternis für das Licht. Der Klang einer Harfe oder der Gesang einer Amsel nehmen uns gleichsam in der Pflicht der lauschenden Zuwendung, auch wenn anderswo Raketen eine Stadt zertrümmern. Denken wir an den Cellisten in Sarajevo, der während des Bürgerkriegs 1995 einsam auf Ruinen spielte.

Etty Hillesum schreibt in ihrem Tagebuch: „Ein Gedicht von Rilke ist ebenso reell und wichtig wie ein junger Mann, der aus dem Flugzeug stürzt, das laß dir nochmals mit Nachdruck gesagt sein. Alles das gibt es nur einmal in dieser Welt, und du darfst nicht das eine um des anderen willen verleugnen … die vielen Widersprüche musst du akzeptieren.“

Wenn der menschverursachte Schrecken in der Wahrnehmung siegt, reißt er jene Perspektiven mit in den Abgrund, die in Resonanz mit den schönen Seiten unseres Wesens gehen können. Und nur diese berechtigen zu Hoffnung.
So gilt es, Beides zu integrieren; das eine auszuhalten, sich dem Anderen hinzugeben und daraus das Quellwasser für eine Zukunft zu trinken, in der wir uns dem Zauber der Schöpfung als würdig und ebenbürtig erweisen.

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