Jene leise Hoffnung

ClausAllgemein

Viele tausende Jahre ist es her, dass aus dem zweibeinigen, jagenden und sammelnden Herdenwesen jene Gestalt wurde, die sich Mensch nannte. In ihm war erwacht, was alles veränderte – Sehnsucht. Jene streckende Bewegung über sich selbst hinaus. Zum Übersteigenden hin, zum Größeren, zum Grund der Gründe, dem Ursprung und der Zukünftigkeit. Das aus dem Halbschlaf des Bewusstseins geführte Geschöpf sah sich mit der Frage konfrontiert, worum es sich bei ihm denn handle, ob es und wie es „gemeint“ sei. Zumindest spürte es, bis zur Gewissheit, dass seine Maßstäblichkeit nicht mehr alleine in sich selber ruhte. Das Größere, Gottheit genannt, war im Bewusstseinsfeld geboren. Es zog das Menschenwesen in unbekannte Räume.

Aus dieser ersten großen Mutation unserer Gattung entstanden Religion, Philosophie, bildende und darstellende Kunst, Poesie, Musik, Wissenschaft, Medizin und Architektur. Die im Menschen angelegte Schönheit und Schöpferkraft gelangte zu einer ersten Blüte. Doch der Prozess hatte zwei Seiten. Wachsender Entwicklung und Verfeinerung sowie steigender Effizienz stand eine mitwachsende Defizienz, stand das Verhängnis gegenüber. Der Herrscher über Welt und Leben bezahlte seinen Aufstieg und seine Ausbreitung mit tiefgreifender Entfremdung von eben jenem Leben. Zivilisation auf höchstem Niveau ging einher mit unvorstellbarer Barbarei und einer Industrialisierung des Grauens.
Heute treibt uns der sich ausbreitende Abgrund vor sich her. Die so oft beschworene Katastrophe liegt nicht irgendwo vor uns. Wir sind inmitten.

Viel von dem, was wir hervorbrachten, und auch wir selber als Gattung, werden auf diesem Niveau nicht zu retten sein. Nicht mit dieser Lebensfeindlichkeit, die unserem Sein und Werden den Boden entzieht. Nicht mit diesen reduzierten Liebeskräften.
Man mag dem entgegenhalten, dass die Menschheit unglaublich anpassungsfähig und lösungsorientiert ist, wenn es ihr an den Kragen geht. Vor allem ist sie in einem hohen, wenn auch noch bedeutend steigerbaren Maße fähig zur Selbstreflexion. Wie weitreichend sich das für eine lebenswerte Zukunft von Mensch und Mitwelt erweist – das wird die zentrale Herausforderung sein, in dem Wettlauf mit einer sich ins Mark des Lebens hineinfressenden Vernichtungsspirale.

Es spricht alles dafür, dass die Menschheit einer weiteren, großen Mutation bedarf. Es muss etwas neu erwachen, ähnlich stark wie der Sehnsuchts- und Forschungsdrang damals, vor vielen tausend Jahren. Ohne eine existentielle Erschütterung des gegenwärtigen Selbstverständnisses und der gegenwärtigen Lebenspraxis, incl. der großtechnologischen Systeme, scheint diese allerdings nicht vorstellbar. Mir fehlt gleichwohl eine begründete Phantasie dafür, wie diese Mutation vonstatten gehen könnte. Auch wenn davon auszugehen ist, dass sie im Grunde als evolutionäre Option in uns ruht. 

Als Sein im Bewusstsein der Verbundenheit mit allem Leben
Als Sein in Konvivialität
Als Sein in gewaltfreier und wertschätzender Zuwendung
Als Sein in Selbstrespekt und Selbstlosigkeit
Als Sein in Demut, Bescheidenheit und Hingabe
Als Sein in Ästhetik und Harmonie
Als Sein in Kindschaft und Mitschöpfertum zugleich
Als Sein in Liebe…

Auf dem Weg zu einer möglichen Umstülpung unseres Wesens werden wir verlässlich und notwendig von dem begleitet, was wir Scheitern nennen. Es will erkannt sein, maskiert es sich doch oft als Gelingen – wenn auch in lebensfeindlichem Sinne. Es will verstanden, durchlebt und kommuniziert sein, sowohl hinsichtlich seiner Gründe als auch der oft schmerzlichen Folgen. Ansonsten wird sich lediglich Gewaltgeschichte wiederholen.

Nahe am Scheitern liegt Resignation. Als durchlittene Akzeptanz versagter Machbarkeit, ja Ohnmacht gehört sie zum Reifen des Menschen. Sie ist die Frucht bewältigter Niederlagen und Balsam für die Wunden, die von den inneren Widersacherkräften geschlagen werden.
Albert Schweitzer:Nur der Mensch, der durch Resignation hindurchgegangen ist, ist der Weltbejahung fähig…Resignation ist die Halle, durch die wir in die Ethik eintreten.“ Dies gilt nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern die Menschheit an sich.

Dass die Dinge absehbar darniederliegen werden, das ist dem Weltgeschehen genauso eingegeben wie gewalthaftes Aufbäumen dagegen. Doch was aus der Erschöpfung in Ruinen erwächst, ob es die erwähnte neue Mutation ist, die in den Lebenscode des Zukünftigen eingeschrieben, ja eingebrannt ist, bleibt als unübersehbares Fragezeichen vollkommen dahingestellt. Wer glaubt schon an den Sprung über den eigenen Schatten? In wie vielen vermag sich diese Melange aus Einsicht, Visionskraft, Selbstgewissheit, Selbsthingabe und Mut zu bilden?

Allenfalls spricht jene leise Hoffnung dafür, dass der Mensch wirklich kein Zufall, sondern in Liebe gewollt ist. An die Wurzel gehende Wachstumsschmerzen inbegriffen.

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