Eigentlich glaubte ich gar nicht mehr daran, wirklich mitgenommen zu werden: Als Anhalter stand ich an der Straße, auf dem Weg von Nîmes nach Saintes Maries de la Mer. Jährlich fand dort zu Pfingsten das mehrtägige Treffen der Zigeunerclans statt, um in einer Prozession die Heilige Maria ins Meer zu tragen. Ich kannte die Zeremonie. Ein Jahr zuvor war ich schon da und fand Kontakt zu den Reinhards. Gitarrenvirtuosen, nicht nur der berühmte Django Reinhard. Eine andere Welt. Faszinierend. Souverän. Jenseits jeglicher Mittelmäßigkeit. Kein bürgerlicher Begriff passte. Es war das Jahr 1970.
Als der blaue VW-Bulli, von dem heute alle Surfer träumen, näher kam, war ich in Gedanken gerade weit weg. Irgendwo sehnsuchtsverloren.
„Wohin willst Du?“ Eine junge blonde Frau, vielleicht fünf oder sechs Jahre älter als ich sprach mich durch die heruntergedrehte Fensterscheibe an. „Nach Saintes Maries“. „Ich kann Dich bis Arles mitnehmen. Fahre weiter nach Marseille. Wohne dort in einem Vorort.“
Auf der Fahrt erzählte sie mir, wie sie als Deutsche hierher gekommen war. Eine Aneinanderreihung von Zufällen. Und sie wisse immer noch nicht, ob das ihr Ort sei. Eigentlich sei das Zuhause ihr Auto. Unterwegs sein. Freiheit. Überraschung. Aber Marseille sei schön, wenn auch unberechenbar. Und ihr französischer Freund ein wirklich zuverlässiger Begleiter.
Das war eine der Situationen in meinem Leben, wo ich das Momentum spürte. Mir saß, wie ich empfand, nebenan auf der Fahrerseite die Frau meines Lebens gegenüber. Die Empfindung war zu groß, als dass ich Worte gefunden hätte. Geschweige denn den Mut zu einer kaum begründbaren Offenbarung. Obwohl ich spürte, dass jegliches Risiko an Offenheit gar kein Risiko gewesen wäre. So wie sie mich anschaute, etwas zurückgenommen und doch so klar zugewandt.
In Arles ließ sie mich raus. Es war kein großer Abschied. Warum auch?
Ein Dank fürs Mitnehmen meinerseits und ein Ciao von ihr, das ich nicht deuten konnte.
Kaum noch einmal in meinem Leben kam ich mir so einsam und verloren vor. Hinter dem Wagen herrennen war kein Option. Mobiltelefone gab es noch nicht. Ich wusste ja nicht einmal den Vornamen.
Tags darauf war ich beim Zigeunerfestival, wobei dazu gesagt werden muss, dass sie sich selber Zigeuner nannten und stolz auf diesen Begriff waren, stolz, zu den Tziganes zu gehören. Das Gitarrenspiel am Lagerfeuer, in Verbindung mit Rotwein, hob die Melancholie auf eine schwebende Ebene.
Lange habe ich noch an die Begegnung im Bulli gedacht, mit viel von dem, was man wohl Wehmut nennt. Ein verpasster Kairos. Das Besondere lag in der Luft. Du spürst es, und bist doch wie neutralisiert. Siehst das Ersehnte dir entgleiten, völlig wehrlos.
Dann verschwand – oder besser: entglitt sie langsam aus meinem Bewusstsein. Ich lernte, was es heißt, wenn Träume sich selbstverschuldet in das Reich, aus dem sie stammen, zurückziehen. Deine großen Träume, die freudig aufgebrochen waren, sich der Wirklichkeit anzunähern. Und dann fehlt dir dieses kleine Quantum Mut, obwohl es doch nichts zu verlieren, aber vielleicht unsagbar Schönes zu gewinnen gibt. Und so lernte ich mit meinen 20 Jahren auch noch, dass ein erfülltes Leben wahrlich nichts für Zögerlinge und Feiglinge ist.
Es gibt nun einmal Züge im Leben, die, wenn du sie nicht besteigst, kein zweites mal kommen. Andere, gewiss. Aber dieser nie mehr. Und so verwarf ich den Gedanken über Marseille zurück zu trampen.
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Das Foto habe ich an dem Tag gemacht, von dem ich schreibe…