Praxis der Stille

ClausAllgemein

Im Herzbereich aller meditativen Bestrebungen liegt die Stille. Gemeint ist jene Stille, die tiefer führt als nur in das Verstummen der gesprochenen Worte. Vor allem gilt dies für die Kontemplation als Weg und Lebenshaltung. Der Unruhe des Gedankenhaften begegnet sie mit Hingabe und Öffnung im inneren Raum. Hier, wo die Gedanken nicht gewalthaft vertrieben, nicht unbarmherzig weggeschoben, sondern sanft zur Ruhe gebettet werden, nimmt der Mensch sich selber an. Er verschmilzt mit seinem größeren Selbst, ausgerichtet auf das göttliche Du als gestaltlosem Geist. Denn „Gott ist Geist“, wie wir in der Schrift lesen. Frei von Konzepten, Wunschgebilden und spirituellen Phantasien. Aber bereit, sich berühren zu lassen.

Zur Stille zu finden, ist für Menschen, die nicht monastisch leben, eine fortwährend neue Herausforderung. Als hilfreich dabei erweist sich ein täglich reserviertes Zeitfenster, verbunden mit einer Jahrhunderte alten Struktur. Nennen wir sie den kontemplativen Vierschritt.

Eins:  Lectio – die Lesung
Ein kurzer Text, der unsere Gedanken aus dem Herumstreunen holt und sie zentriert. Worte mit Gehalt, Worte des Lebens, Worte, die der inneren Ausrichtung zu dienen vermögen.

Zwei: Meditatio – Reflexion
Sie versteht sich nicht als Textexegese, nicht als fokussierte analytische Klärung. Es geht vielmehr um das Erspüren der Resonanz, die bei mir ausgelöst wird. In welche Empfindung führen die Worte? In welcher Weise nehme ich sie sinnlich wahr? So ist neben dem Geist nun auch die Leibwahrnehmung ganz bei mir.

Drei: Oratio – das Gebet/das Gedenken
Sorge und innere Fürsorge um Menschen, die mir nahe sind, um deren Leiden und Kämpfe ich weiß; die geistige Begleitung all jener, die in meinem Lebensfeld beheimatet sind; das Gedenken an die Gegangenen; die Übergabe dessen, was ich nicht tragen kann an die geistige Welt; die Entlastung der beschwerten eigenen Seele…aber auch die Kundgabe der Lebensfreude und damit verbundener Dankbarkeit.
All das findet hier seinen Platz. Es nimmt inneren Druck, befreit, beugt spiritueller Selbstbezüglichkeit vor. Es reinigt unseren geistigen Raum und bereitet so den Weg für die tiefe Stille.

Vier: Contemplatio – die Stille
Mit der Aufnahme einer bewussten und tiefen Atmung verlassen wir das Gedankenfeld des Gedenkens. Wir betreten den inneren Raum reinen Anvertrauens in konzeptfreier Offenheit. Es ist der Raum bedingungslosen Angenommenseins. Ganz bei uns selbst und doch mit allem verbunden. Du kannst dich fallenlassen, ohne Sorge zu haben aufzuschlagen. Die Energie, die trägt, ist Herzensenergie, ist ein Ja zum Sein, ist die Annahme der Welt. Wenn wir sie mit einem Namen verbinden sollten, könnte es Amen sein. Das Wort schließt keine Prozesse ab, es öffnet sie. Es hat die Kraft, die Stille zu begleiten.

Mit den vier Stufen kontemplativer Ausrichtung beginnt jeder Tag wie ein neues Leben. Wir stolpern nicht einfach in ihn hinein. Wir betreten ihn bewusst und mit Verantwortung für uns selbst und für anderes Leben. Wir schaffen ein Fundament, das trägt. Es stabilisiert, weitet die Wahrnehmung, schenkt eine übergeordnete Perspektive in den alltäglichen Verfangenheiten. Jeder bewusste Atemzug vermag uns dann in die entsprechende Energie zurückzuholen, wenn wir drohen uns an Situationen zu verlieren.

Dies soll als eine Möglichkeit verstanden werden, die sich durch die Zeiten hindurch bewährt hat. Es ist selbstredend keine Bedingung für den Zugang zur Stille. Diesen kann jeder auf seine Weise bzw. einem anderen Erfahrungsweg finden, wenn die Sehnsucht als innerer Antrieb nur stark genug ist.

Zum Anhören klicken Sie bitte hier
Wenn Sie meinen Blog abonnieren möchten, klicken Sie bitte hier