Judas

ClausAllgemein

Ein Mann, vom Meister erwählt und zum Jünger berufen, sieht sich in seinen Erwartungen enttäuscht. Er begeht Verrat und setzt damit einen folgenreichen Handlungsstrang in Gang. Festnahme, Verhör, Verurteilung, Vollstreckung.
Judas, der Jesus ausgeliefert haben soll, gilt als die historische Verkörperung des Verräters aus niederen Beweggründen. Ein Judas steht außerhalb der ehrenwerten und selbstgerechten Gesellschaft. Kann man ihn identifizieren und markieren, hat man einen Sündenbock und braucht sich nicht weiter um möglicherweise tieferliegende Ursachen eines Geschehens zu kümmern.

Was die historische Gestalt des Judas Iskariot betrifft, gibt es allerdings unterschiedliche Deutungen hinsichtlich seiner wahren Motive, die zur Festnahme des Nazareners führten. Dazu gehört, wie in frühchristlichen Deutungen, ihn als Heiligen zu betrachten, der durch sein Handeln die Passions- und Heilsgeschichte und damit überhaupt erst die Erfüllung der Schrift und später die Grundlegung des Christentums ermöglicht hat.
Sehe man ihn nun als diesen Heiligen, der letztlich im kompromisslosen Dienst an der Erwählung und Berufung Jesu stand, oder doch nur als eine wankelmütige und schwache Persönlichkeit, die an ihrem Verrat zerbrochen ist: Das Geschehene weist uns exemplarisch auf verschiedene Handlungsebenen und Handlungsfolgen hin. Sie gilt es im Blick zu haben, wenn wir uns historischen Ereignissen angemessen und nicht nur vordergründig nähern wollen.

– Da ist eine unmittelbare Aktion, nur auf sich selbst gerichtet und in sich selbst begründet. Der Handlungszusammenhang verbleibt bei sich, schlägt keine Wellen. Mögliche langfristige Wirkungen sind nicht bedacht, nicht intendiert und von ihrer Bedeutung her zu vernachlässigen.
– Es wird etwas Überraschendes ausgelöst, was nicht in unmittelbarem Begründungszusammenhang mit einer Tat bzw. einer Handlung steht. Es kommt zu Domino-Effekten, die nicht vorhersehbar waren.
– Das Geschehene trifft einen vorher nicht gesehenen und auch nicht vermuteten Kipppunkt, der den Lauf der Geschichte grundlegend verändert. Der berühmte Schmetterlingseffekt der Chaos-Theorie.
– Eine als unscheinbar verschleierte Handlung wird bewusst in der Gewissheit bzw. Erwartung vollzogen, damit ganz andere Ziele zu erreichen als der Ereignishergang zunächst ahnen lässt.

Betrachtet man das Tun und Nichttun von solch verschiedenen Ebenen her, wandelt sich auch die jeweilige Bedeutung der Handlungsträger. Eine Untat bleibt dann zwar eine Untat, der Verbrecher ein Verbrecher. Doch gleichzeitig macht es wenig Sinn, bei solcher Feststellung zu verharren. Die Kontexte werden wichtiger und das verursachte Folgegeschehen, das sich ansonsten nicht bzw. nicht in dieser Weise ereignet hätte. Und dann wird möglicherweise sichtbar, dass ein Täter oder Attentäter mit seinem Tun ungewollt zu einem Werkzeug der Geschichte geworden ist. Und es zeigt sich zudem, dass ein Tatkomplex selten aus dem Nichts geboren und vollzogen wird. Vielmehr kann er mit angestauten und zugespitzten Bedingungen und Stimmungen in Verbindung gebracht werden. Nicht nur das Beispiel Judas steht dafür, sondern exemplarisch etwa auch das Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, am 28. Juni 1914. Es führte in einer politisch und militärisch „aufgeladenen“ Situation in den ersten Weltkrieg und in den weiteren Folgen zu einer grundlegend veränderten europäischen „Architektur“.

In Friedrich von Schillers Satz, dass es der Fluch der bösen Tat sei, fortwährend Böses zu gebären, begegnet uns eine tiefe Wahrheit. Doch wir registrieren gleichzeitig, dass es, auf Dauer betrachtet, oft auch das „Gute im Bösen“ gibt.

Putins Aggression verwüstet ein Land, vernichtet Leben, erschüttert die, die sich, nach Frieden sehnend, behütet in einem aufgeklärten Europa sahen. Sie lässt die Aktien der Kriegsindustrie steigen. Doch sie weckt auch demokratische Systeme aus ihrer Schläfrigkeit, stärkt deren Zusammenhalt und fördert die Solidarität der Menschen mit den Opfern. Sie gibt, trotz eines ersten fossilen Rückschlags, der Energiewende einen gewaltigen Schub.

Auch wenn das Gute im Bösen nie als Rechtfertigung dienen darf, will es doch gesehen sein, wenn wir der Geschichte gerecht werden und aus ihr lernen wollen. In der oft schauerlichen Paradoxie und Dramaturgie historischen Geschehens steht das verwerfliche Tun am Umkehrpunkt zu so manchen Ermöglichungen und für gut geheißenen Durchbruchshandlungen.

Der historische Prozess als solcher ist in seinen Wellenbewegungen jenseits von gut und böse. Aus einem Jahrtausendblick schauen wir auf das, was im Menschen lebt und was die Macht hat, sich zu verwirklichen. Mag man eine banalere Feststellung kaum formulieren können, so zeigt sich doch auch in dieser Frage, dass Entwicklung und Macht genau so wenig zu trennen sind wie gut und böse, wie Verhängnis und Segen. Und die Maßstäbe dafür, zu welcher Seite hin wir den Regler der Interpretation schieben, setzt jenes, was Kultur genannt wird. Diese allerdings, scheint eine vollkommen unberechenbare Persönlichkeit zu sein.

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