Das Tor zur Wahrheit

ClausAllgemein

Was denn die rechte Wahrheit sei…darüber tobt der Streit seit es Kultur gibt. Kriege wurden darum geführt, in ihrem Namen Menschen verfolgt, gemartert und getötet. Wahrheit für sich in Anspruch nehmen zu können, verspricht das Höchste, was menschlicher Geist erstreben kann. Es locken Macht und Unantastbarkeit. Keine Ideologie und keine Religion, die meinten, ohne das Wahrheitspostulat auskommen zu können. Auch wenn das Opfer dieser Hybris die Wahrheit selbst war.

Was macht den Umgang mit Wahrheit so problematisch bzw. worauf gilt es sich einzurichten, wenn es ernsthaft um Wahrheit geht?

Mit Wahrheit tritt uns der Absolutheitsbegriff gegenüber. In sich duldet er keinen Widerspruch. Ihm obliegt das Ganze schlechthin, unabhängig von Zeit und Raum. Ähnlich wie „Gott“. Der Mensch als das Bedingte, Relative, Zeitgebundene allerdings kann das Absolute nie vollständig umfassen. Und so mag es die Wahrheit geben, aber sie ist uns nicht zugänglich. Unter Zuhilfenahme von Reflexivität, Selbstreflexivität und Selbstoffenbarung können wir uns ihr allerdings nähern, um sie ringen – durch Prüfung und Gegenprüfung, durch Zweifel, Widerspruchstoleranz und Synthese. In einem nicht endenden Prozess. Nennen wir das Wahrhaftigkeit.

Im Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsprozess halte ich das andere und das mir Verschlossene aus; riskiere Standpunkte; ertrage den Widerspruch; übe mich in Multiperspektivität; und im Loslassen; halte die Vielfalt des mir Begegnenden in der Schwebe, statt voreilig Eindeutigkeiten zu proklamieren. Andernfalls wartet eine als Wahrheit maskierte Dogmatik. Der Weg der Religionen und Theologien ist gepflastert mit solchen unbarmherzigen Illusionen.

Hilfreich im Prozess der Wahrhaftigkeitsspirale ist das vom suchenden Menschen geforderte Vermögen, sich immer wieder in eine Metaperspektive zu begeben – unabhängig von allem, was geschieht. Das meint eine übergeordnete, evolutionäre, ja zeitlose Schau dessen, was wir als Bewegungen auf der Erde wahrnehmen. Es ist ein unverfangener, aus kontemplativer Weltzuwendung geborener Blick. Er stellt die wesenhaften Bezüge und Verflechtungen klar. Und vor allem abstrahiert er auch von mir selber als einem wahrnehmenden „System“, das von Bedürfnissen und Empfindungen geprägt ist. Er fügt sich schlicht in das Größere ein.

Ausfluss dessen, was für Menschen Wahrheit meinen kann, sind die überzeitlichen Weisheiten. In zahlreichen Passagen sind sie im Schrifttum der Weltreligionen formuliert. Die „Weisheit Salomos“, „Hiob“, „Jesus Sirach“, „Kohelet“ oder „Sprüche“ gehören in der Hebräischen Bibel dazu. Die Bergpredigt und die Gleichnisse Jesu im Neuen Testament. Die „Predigt von Benares“ im Buddhismus, die „Bhagavad Gita“ im Hinduismus, und auch das „Tao te King“ im Taoismus sind weiter zu nennen. Diese Essenzen der Wahrheit begegnen uns auf einer anderen Ebene als „Richtigkeit“ oder „Faktizität“, als das wissenschaftlich Verhandelte oder auch das subjektiv als wahr Empfundene. Sie gelten nicht nur innerhalb des begrenzten Zeitlichen, sondern dem kosmischen Lauf der Dinge. Ihnen allen eigen ist eine liebende und zugleich klare Zuwendung zum Leben. Und damit kein Missverständnis auftaucht: Wahrheit und Liebe hören sich so fremd zueinander an. Aber im Letzten sind sie eins. Denn die Liebe, die auf das Ganze gehende, aus dem Absoluten geborene und nicht nur sentimental anthropozentrisch reduzierte … diese Liebe ist Wahrheit von ihrem Wesen her.

Das Tor zur Wahrheit liegt im kontemplativen Weltzugang. Im Lassen der Gedanken, Erwartungen und Projektionen; in der Hingabe und unbedingten Offenheit auf dem Weg der Stille. In der Überwindung des Streits um Wissen und darauf bezogener Rechthabereien. In der liebenden Ausrichtung auf das Absolute selbst.

Auf den Atem ausgerichtet, eintauchend in die Tiefe des Einsseins, wo es keine Trennung und keinen Widerspruch mehr gibt. Hier, in der Nicht-Zweiheit, bist du mit dem Sein an sich und damit der Wahrheit verbunden. Du musst nichts sehen, das Mysterium bleibt in der Wolke des Nichtwissens verborgen. Und doch strahlt dich ein Glanz der Wahrheit an und zugleich strahlt er aus dir heraus. Du übst dich in Akzeptanz. Es ist, wie es ist; und was ist, ist von sich aus wahr.

So betrachtet, stehen wir immer in der Wahrheit des Seins, ohne sie umfassend kognitiv zu erkennen und in Worten ausdrücken zu können. Doch wir tragen die Empfindung von Gewissheit in uns – jenseits des Sagbaren und ohne Beweise.

Das ähnelt dem Sehnsuchtsparadox: Der Mensch ist bei Gott, allein schon durch seine gelebte Gottessehnsucht. Und er lebt in der Wahrheit, auch wenn er sie nicht vollends umgreifen kann. Sie berührt ihn als fließendes Licht, nicht aber als in Stein gemeißeltes Wort. Sie tritt ihm als Jetzt gegenüber. Und er kann gewiss sein, dass das, was ihm begegnet, wahr ist, von innen her.

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