Vernunft und Liebe in Zeiten des Krieges

ClausAllgemein

Es geht in diesem Beitrag nicht um Rechthaben. Ich möchte den Blick auf einen Grundwiderspruch richten, in dem ich mich allerdings positioniere. Die Möglichkeit des Irrtums mitbedacht.

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Größer ist kein ethisches Dilemma vorstellbar.
Mahnender könnte sich kein Fragezeichen aufbauen, wenn es darum geht, was denn Vernunft in diesen Zeiten sei.
Rätselhaft und wie aus einer anderen Welt ruht erschüttert und verstummend der Appell an die Feindesliebe.

Deutschland befindet sich in einer Rüstungsspirale, wie sie noch vor Kurzem undenkbar schien. Der viertgrößte Waffenexporteur der Welt liefert Tötungsmaschinen aller Heeresgattungen in ein auf barbarische Weise überfallenes Land, das sich gegen den Aggressor verteidigt. Mehr und neue Waffenfabriken werden gefordert und geplant. Verantwortliche Militärs drängen auf den Einstieg in eine Kriegswirtschaft, um die Nachfrage zu bedienen. Ausgerechnet Vertreter der Rüstungsindustrie sind auf einmal wieder umworbene Gesprächspartner.
In der Ukraine, daran sei einfach nur erinnert, haben deutsche Panzer vor 80 Jahren nur verbrannte Erde hinterlassen. Und die dort heute wütenden russischen Gegner mussten im Zweiten Weltkrieg selber ca. 24 Millionen Opfer durch deutsche Schuld beklagen.

Selbstredend, die Zeiten sind heute andere. Es geht nicht um die Eroberung von Land für ein „Volk ohne Raum“ mit dem Parallelzweck eines entvölkernden Vernichtungskrieges; es geht um die Verteidigung von Freiheit und Selbstbestimmung der Ukraine gegenüber einem neoimperialistischen System.
Im Sinne der alten politischen und Systemlogiken ist dies nicht nur nachvollziehbar, sondern unausweichlich. So bestätigt auch die Charta der Vereinten Nationen „das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“. Es ließe sich weitergehend interpretieren, dass wer da dem in einem offenen Krieg überfallenen Nachbarstaat nicht die Selbstverteidigung mit ermöglicht, sich der unterlassenen Hilfeleistung, wenn nicht einem Bruch des Völkerrechtes schuldig macht. Waffen, auch das ist nicht von der Hand zu weisen, können Menschenleben schützen. Und schließlich: Zeigst du dem Aggressor nicht frühzeitig seine Grenzen auf, wird er bald das nächste Land attackieren.

Diese Blickweise ist in sich stimmig. Doch es geraten so gut wie alle anderen damit einhergehenden Folgen und vor allem Wertesysteme außer Reichweite. Sie werden Opfer eines Freiheitsverständnisses, das sich selbst absolut setzt, auch wenn der Preis dafür die Inkaufnahme der umfassenden Zerstörung von Lebensgrundlagen ist, also dessen, worauf Freiheit sich eigentlich bezieht. Die Rechtfertigungsmetaphern sind dabei aufschlussreich. Schrittweise geht es nicht mehr nur um Verteidigung, die wie Mahatma Gandhi gezeigt hat, auch ohne Waffengewalt möglich und erfolgreich ist; es geht um „Besiegen“, um „Sieg“ um „Rückeroberung“. Eine Situation hat sich, von dem Ausgangsimpuls eines verbrecherischen Überfalls her kommend, aufgeschaukelt, die am Rande des Kontrollverlustes beider Seiten steht. Mit wahrhaft unabsehbaren Folgen.

Wechseln wir die Blickweise. Von der Logik des Auge um Auge…hin zur langfristigen Lebensdienlichkeit. Nun rücken andere Aspekte mit ins Spiel.

Es gibt keinen Sieger in einem Krieg. Soll man sich etwa über durch deutsche Waffen getötete russische Soldaten freuen? Auch sie sind letztlich Opfer eines politischen Terroristen. Krieg produziert grundsätzlich nur Verlierer – und zwar auf allen Seiten des Seins, nicht nur denen des Menschen. Vor allem betrifft dies die in den politischen Auseinandersetzungen normalerweise vollständig ausgeklammerte Natur, die Fauna und die von Panzern niedergewalzte Flora. Was reden wir uns in der Normalität der Bundesrepublik und weltweit die Köpfe heiß hinsichtlich einer Reduzierung der ökologischen Belastungen unseres Tuns. Da geht es um Mikrogramm CO2-Ausstoß im Straßenverkehr, um Reduzierung von Bodenbelastung, Entgiftung von Gewässern, Reservateschutz für Tiere und Insekten… Und dann zermalmen Panzer, die gewiss keine Diesel-Partikel-Filter haben, den Boden; frei gesetzte, unermessliche Munitionsarsenale vergiften riesige Landflächen und Grundwasserreservoire. Und du hörst: Mehr Panzerlieferungen, mehr Munition, ja Phosphorbomben und Streumunition. Die Logik des Krieges hat auch die Angegriffenen infiziert. Das ist seine Dämonie.

Die Bemühungen von einzelnen Menschen und Menschengruppen, lebensdienlich den Alltag zu gestalten, werden durch diese Kriegsrhetorik und Rüstungs- bzw. Waffenpraxis beschämt, ja ad absurdum geführt. Wo nie das Geld für den Schutz des Planeten in hinreichendem Maße da war – ruft heute Rüstung, fließen die Mittel grenzenlos. Wenn es um eine spezifische äußere menschliche Freiheit geht, zählt anscheinend nichts mehr an sonstigen Werten, gibt es keine Güterabwägung. Kein menschliches Freiheitsverständnis steht jedoch über dem Wohl des Planeten an sich!

Würde man sich als Alien in einem Raumschiff langsam der Erde nähern und verfolgen, was hier abläuft, könnte man nur in einer Mischung aus Panik und Entsetzen der Raumschiffpilotin zurufen: „Nichts wie weg hier! Die sind völlig irre…“

Aber was tun? Das geschundene Land und die malträtierten Ukrainer der Putinisierung überlassen?

Zum unermüdlichen Verhandeln, zum Präsenz zeigen auf beiden Seiten, gibt es genau so wenig eine Alternative wie zu einem bedingungslosen Waffenstillstand. Auch wenn das bedeutet, immer wieder den ersten Schritt zu gehen, wenn der vorherige nicht weiter führte. Und wenn du tausendmal belogen wurdest, suche wieder die Kommunikation. Denn von Wut, Enttäuschungen und Kränkungen gelähmt in den dualistischen Verfangenheiten stecken zu bleiben, und nicht die Knoten alten Denkens durchzuschneiden – wird die Erde irgendwann verwüstet im Krieg versinken lassen… Mensch gegen Mensch, Mensch gegen Natur, Mensch gegen Alles. Insofern ist der Ukrainekrieg ein mahnendes Exempel, in dem es wahrhaft um mehr geht als um ein einzelnes traumatisiertes Land.

„Man kann mit der Bergpredigt keine Politik machen“ ist ein gängiges herrschendes Motto, das auf Reichskanzler Otto von Bismarck und Bundekanzler Helmut Schmidt zurückgeht. Was lehrt der jesuanische Text so Unmögliches, dass man ihn, wenn es Ernst wird, für nichtig erklärt?
Friedfertigkeit, Mitmenschlichkeit, Feindesliebe, Hinnahmebereitschaft und unentwegtes Bemühen umeinander stehen im Zentrum. Sicher, eine fast übermenschlich klingende Herausforderung. Und doch alternativlos für eine gelingende Entwicklung der Menschheit. Gerade wenn die Gewalt überbordet, muss das der Maßstab sein, auch wenn wir immer wieder die damit verbundenen Ansprüche verfehlen. Das beharrliche Ringen darum ist der einzige Ausweg aus der Gewaltspirale. Und solches fordert mehr Mut und Gradlinigkeit als jeder bellizistische Aufschrei. Einer Friedensreligion wird man nicht gerecht, wenn man ihre Essenz opportunistisch negiert. Dann möge man besser die Heiligen Schriften der Scheinheiligen an einem unbekannten Ort verschließen. Sie sind zu kostbar, um sie in Sonntagsreden bzw. bei der Ablegung des Amtseides zu verhöhnen.

Es existiert kein Königsweg zum Frieden. Aber es gibt den sich selbst riskierenden, suchenden Kampf darum. Und wie alle großen Kämpfe beginnt auch dieser im Inneren. Scheitern inbegriffen. Neubeginn vorausgesetzt.

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