Gnade

ClausAllgemein

Sie gehört zu den Begriffen, die aus der Mode kommen oder besser: sich im Wahrnehmungsraum kultureller Selbstverständlichkeiten langsam auflösen. „Gnade vor Recht“ ergehen lassen – das mag sich als Bedeutung noch halten. Sie als Wesensgrund des Seins schlechthin zu verstehen, grenzt an Unverständnis in einer Zeit, der es beigegeben ist, das Leben mit all seinen Möglichkeiten nicht nur als unhinterfragt anzusehen, sondern einen Anspruch darauf zu reklamieren.

Was meint Gnade?

Dem Menschen widerfährt ein Wohlergehen ohne eigenes Zutun. Es kann nicht eingefordert, ja nicht einmal erwartet werden. Gnade entzieht sich der Verfügbarkeit. Sie tritt in die Existenz wie ein unvorhergesehenes, überraschendes Geschenk. Einfach so. Das kann sich im Rechtssystem, ja auch in Herrschaftsverhältnissen ereignen oder zwischen sich nahen Menschen. Gemeint ist damit vor allem jedoch die fürsorgliche Zuwendung des Göttlichen zum Irdischen hin – wie immer sich dieses Zugewandte dann auch darstellen mag. Die Empfindung der Vergebung, die Erlösung von untragbarer Last und Beschwernis, die Erfahrung von nicht für möglich gehaltener, weil unverdienter Barmherzigkeit.

Gnade findet Ausdruck und Vollzug durch eine andere Person; sie kommt als unverhoffte, segensreiche Begegnung oder inmitten eines Beziehungsgeschehens. Als Gnade aber können wir vor allem das Sein an sich betrachten. Das Geschenk unseres Planeten mit seinen unzähligen Lebenswundern und Schönheiten, darunter die eigene Existenz. Leben zu dürfen. Sich zu freuen, zu genießen, Erfahrungen zu durchstehen, zu leiden, auszuhalten, sich immer wieder neu zu erheben… Was kann es Größeres geben?

Und dann wanderst du durch die Welt mit offenen Augen und Ohren und siehst und hörst die Menschen sich beklagen; herumjammern über Dieses und Jenes; Unzufriedenheit zu signalisieren – denn alles könnte ja noch besser sein. Wo das Leben so verkannt wird, fehlt eine Urregung menschlichen Bewusstseins, nämlich Gnade als solche erkennen zu können. Dazu gehört die Einsicht, dass Gnade sich nicht nur in süßem Konfekt ausdrückt, sondern gelegentlich auch in bitterer Medizin.

Das Gnade genannte Heilshandeln aus dem Raum des Absoluten und aus der geistigen Welt ist eine Umschreibung für das Beziehungsband zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen. Letztlich ist es eine Antwort auf die Gottessehnsucht und Ausdruck einer entsprechenden Resonanz. Rationaler und sich auf evidente, kausale Ursachen- und Wirkungszusammenhänge beschränkender menschlicher Geist, wird das allerdings nie so sehen und verstehen können. Denn es will empfunden, und in einem gewissen Maße auch geglaubt sein. Geschieht dies jedoch, wird sich ein Mensch des Gnadenhandelns und seiner eigenen „Rolle“ dabei bewusst, so kann er verstehen, dass Resonanz ein wechselseitiges Geschehen und er bis zu einem gewissen Maße Mitwirkender ist. Das erst bringt seine Freiheit zur Vollendung – als Freiheit zur verantwortungsbewussten Partizipation am Heilsgeschehen auf der Erde. Jesu Lebensweg ist dafür das Exempel – wie auch der so vieler „heilig“ genannter Menschen in den unterschiedlichsten Traditionen und Religionen.

Partizipation am Heilsgeschehen kann als Verpflichtung und Bringschuld  bezogen auf die Gnade des Ursprungs und die folgenden unzähligen Gnadenakte gesehen werden. Zu diesen sind auch die Gabe des Evangeliums und der Heiligen Schriften insgesamt zu rechnen. Und diese wiederum enthalten die entscheidenden Hinweise für menschliches Gnadenhandeln – wenn wir etwa an die Seligpreisungen im Matthäus-Evangelium denken. Das dadurch Ausgelöste und Bewirkte zielt auf Veränderung durch Klarheit. Billige Gnade als Toleranz Jedem und Allem gegenüber ist damit wahrlich nicht gemeint.

Es gibt das Gnadenhafte, das uns zufällt. Es mag den Menschen verändern, muss es aber nicht. Für seine geistige und spirituelle Entwicklung bedarf es, über die bloße Hinnahme hinaus, sowohl des Erkennens und Verstehens von Gnade als auch des eigenen Bemühens, sie für die Welt fruchtbar zu machen.

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