Ethos, Spiritualität und Macht

ClausAllgemein

Letztendlich resultieren nahezu alle vom Menschen ausgehenden Übergriffe und damit verbundene Gewalthaftigkeit aus unreflektierter Ich-Bezogenheit, Egozentrismus genannt. Er schränkt Perspektive und Wahrnehmung dramatisch ein. Wobei Ich-Haftigkeit und daraus resultierende Perspektiven nicht nur für eine Person, sondern auch für Gruppen, Staaten und Religionen reklamiert werden können. In jedem dieser Fälle geht Verlustangst damit einher und ein nach außen gerichteter Kontrollzwang. Dieser äußert sich u.a. in Abwehr- und Angriffsgedanken. Mensch und Kultur bewegen sich dann in einer wahrhaft (selbst)mörderischen Spirale. Eine Entwicklung hin zum integralen Wahrnehmen, Denken und Empfinden, zu einer Lebens- und Lebensweltperspektive im umfassenden Sinne, muss deshalb an dieser Stelle ansetzen.

Bekanntermaßen befinden sich sowohl in der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, die wir Albert Schweitzer verdanken, als auch in dem Verständnis von Gewaltlosigkeit, wie es auf Mahatma Gandhi zurückgeht, Anknüpfungspunkte. Sie leiten uns zu einer universalen Ethik und ein entsprechend entgrenztes Verständnis von Verantwortung. Dem Leben an sich teilhaftig zu werden, es mitzuerleben, seine Bedürfnisse zu verstehen und es, wo immer möglich, zu erhalten und zu fördern … das trägt diesen Geist. Nennen wir ihn Lebensorientierung.

Mit ihr mindert sich ein verselbständigtes Nützlichkeitsdenken. Nicht wofür es gut und verwertbar sei prägen die Beurteilung eines Lebewesens, sondern seine Einmaligkeit und der Wert an sich, der jeder Seinsform zuzugestehen ist. Mit dem daraus geborenen Respekt gehen auch die Erkenntnis und das Empfinden einher, dass Existenz immer ein Geheimnis und eine Unergründlichkeit in sich trägt. Die ethische erweitert sich zu einer zutiefst spirituellen Frage. In den abrahamitischen Weltreligionen und der in ihnen so durchdringend lebenden anthropozentrischen Sichtweise hat dies allerdings noch so gut wie keinen Niederschlag gefunden. Dabei wäre gerade die Vision von der einen und in ihrem Lebensstrom alles miteinander verbindenden Erde der Ankerpunkt für die anstehende Vereinigung der Religionen und all jener Menschen, die der Tiefe und der Transzendenz des Seins nachspüren und sich in dieser Suchbewegung beheimatet fühlen wollen. Vereinigung meint dabei selbstredend nicht Vereinheitlichung. Vielmehr geht es um praktizierte Geschwisterlichkeit in Vielfalt und damit um die Auflösung der sich oft so schroff voneinander abgrenzenden spirituellen Schrebergärten.

Man mag an dieser Stelle fragen, ob es unter dem Vorzeichen dessen, was sie in der Geschichte alles angerichtet haben, es ausgerechnet noch eines Beitrags der Religionen bedarf bzw. überhaupt einer spirituellen Orientierung.
Nun, die Rolle der Spiritualität im Werdeprozess scheint mir außerordentlich und unersetzbar. Denn sie meint die Rückbindung (religio) des Menschen an das ihn Übersteigende. Recht verstanden, hält sie im Bewusstsein der Gnade und entsprechend einer Haltung der Demut dem Leben gegenüber. Damit schützt sie zugleich den Raum des Unverfügbaren vor dem Ausbeutungsdenken machtbesessener Politik und kapitalistischer Ökonomie.

Es mag sogar sein, dass nur eine ganzheitliche, offene und nicht ausgrenzende spirituelle Rückbindung den Menschen davor bewahrt, die Vision von einer liebenden Weltverbesserung mit persönlichem Streben nach Herrschaft zu verbinden. Denn das wäre fatal. Wer Macht und Herrschaft für sich selber sucht, um reine und noch so edle Ideale zu verwirklichen, der wird genau in der Eigendynamik dieses Strebens seine Ideale verraten. Die Geschichte lehrt uns ausnahmslos, dass vor den Ansprüchen von Herrschaft die zarten Werte kapitulieren müssen. Herrschaft ist eine Weise von Beziehung, die der Differenzierung, der Vielfalt und der Freiheit von Leben per se widerspricht. Sie und Ethos werden nie Hand in Hand miteinander gehen. Vielmehr verhindert diese toxische Mischung bereits eine Freundschaft, die bedingungslos wäre und vom Füreinander-da-Sein lebte. Ja, sie widerstrebt selbst einem Klima nachhaltiger Kooperation, da das Wesen von Herrschaft konfrontativ ist und sich gegen Freiheit, Pluralität und Selbstbestimmung richtet. Zudem äußert sie sich im Zweifel eher in Fanatismus und Kontrollwahn, denn in liebender Hingabe.

Der Verbindung von Ethos und wohlmeinender Macht kann demgegenüber all das, was Herrschaft versagt bleiben muss, gelingen. Die Voraussetzung dafür allerdings wäre, Macht nicht zu formalisieren und in Herrschaftsformen zu überführen, sondern sie als Kommunikationsweise, Überzeugungs- und Gestaltungskraft zu verstehen. Deren Autorität speist sich aus der Liebe zur Gerechtigkeit, dem Drang diese durchzusetzen und das in sich zuwendender Weise. Ein anderes Wort dafür wäre gelebte Solidarität, wäre eine Lebensform der Verbundenheit in Verbindlichkeit.

Bloße Toleranz reicht dafür nicht hin. Denn sie kann schnell in die stillhaltende Akzeptanz eines ‚anything goes‘ münden, in ein Hinnehmen sowohl lebensfeindlicher Strukturen und Verhaltensweisen als auch ideologischer Unerbittlichkeiten. Und das aus purer Bequemlichkeit bzw. einem als vornehmer Zurückhaltung maskierten Desinteresse, das sich auch noch erhaben dünkt. Davon ist gegenwärtig viel zu spüren. Schauen wir etwa nur auf die hinnehmende „Toleranz“, was lebensverachtende Politikströmungen und Wirtschaftsweisen betrifft, oder die Vernichtungsfeldzüge den Tieren und Pflanzen gegenüber, aber auch das ausgrenzende Sprach- und Meinungsdiktat durch eine kleine, „woke“ Community, Cancel Culture genannt.

Jesus ermahnte seine Jünger, heiß oder kalt zu sein, aber keinesfalls lau. In existentiellen Fragen geht es demnach nicht ohne Entschiedenheit. Macht, die den Seinsprozessen dient, sollte deshalb auch nicht lau sein. Sie ist „heiß“, wo sie für das Leben auf diesem Planeten brennt. Und sie ist „kalt“, wo es um die Abwehr lebens- und vielfaltsverachtender Kräfte geht. Das setzt Klarheit und Wahrhaftigkeit voraus. Und solche kann nicht ohne die damit verbundenen Klarheitsschmerzen kommuniziert werden. Es sind allerdings Schmerzen, die im besten Falle zur Heilung führen – durch das Spüren und Erkennen der Verfangenheit in einem lebensfeindlichen Bewusstsein.

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