Es ist der Abend des 6. Dezember 1273, vor genau 750 Jahren. Thomas von Aquin (1225 – 1274) kehrt von der Heiligen Messe zurück. Verändert. Schreibt nicht weiter an seinem großen Werk, diktiert nichts mehr, er schweigt. Von seinem Sekretär und Freund, Reginald von Piperno, gefragt, warum es nicht weitergehe mit der Arbeit, sagt er laut den Akten des Heilgsprechungsprozesses:
„Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Spreu im Vergleich zu dem, was ich geschaut habe und was mir offenbart worden ist.“
Tatsächlich ist ab diesem Tag bis zu seinem Tod nur noch ein Brief an den Abt von Montecassino bekannt. Thomas stirbt am 7. März 1274 in der Zisterzienserabtei Fossa Nova, etwa 100 Kilometer südlich von Rom.
Erinnern wir uns zunächst, von wem wir hier sprechen.
Er war der Großmeister der Scholastik, Heiliger, Kirchenlehrer und Verfasser des bis heute wohl bedeutendsten theologischen Werkes, der Summe der Theologie (Summa Theologiae). Philosophenschulen gründen auf seinem Denken. Bis weit in unsere Zeit war der sogenannte Thomismus maßgebliche Lehre katholischen Denkens und Forschens. Aus seinem christlichen Weltbild heraus versuchte er die gesamte Schöpfungswirklichkeit bis zu Gott hin zu beschreiben. Das brachte ihm den Namen Doctor Angelicus, der engelgleiche Lehrer, ein. In seiner Arbeit versöhnte Thomas Philosophie und Theologie und hob hinsichtlich der großen metaphysischen Fragen Klugheit, Erkenntnis und Vernunft hervor. Glaube beginne immer erst da, wo die Vernunft/Erkenntnis ende. Hätten seine unmittelbaren und späteren Leser das richtig verstanden, wäre er wohl nach den Maßstäben damaliger Theologie bzw. kirchlicher Lehre, auf dem Scheiterhaufen gelandet; spricht Thomas doch davon, dass Erkenntnis ein evolutionärer Prozess ist. Das schließt Dogmen aus.
Und ausgerechnet dieser Meister von Klarheit in Schrift und Wort endet im Verstummen…
Das Geschaute erwies sich als größer als alle Formulierungen, die menschliche Sprache zu formen in der Lage ist. Das Unsagbare widersteht auch seinen Versuchen, sich dem großen Geheimnis denkend und sprachlich erklärend zu nähern. Fassungslosigkeit resultiert daraus. Völlig aus der Fassung geraten, die dich hielt, die dir Koordinate aber auch Korsett war.
Was war da passiert an jenem Nikolaustag? Was hatte Thomas gesehen und mit welchen Augen? Was bringt einen Menschen, brillanten und allgemein respektierten, ja verehrten Denker und zugleich tief religiösen Mann dazu, auf dem Höhepunkt seines Schaffens ein so gigantisches Lebenswerk von einem auf den anderen Moment zu verwerfen? Nichts dazu zu sagen, und seien es noch so stammelnde Worte. Und mit dieser erschöpft/resignativen Bewegung auch all jenes von der Tafel der Erkenntnis zu wischen, was unendlich viele andere Menschen sich zurechtlegen, um sich halbwegs zurechtzufinden im universalen und kosmischen Spiel…
Man spricht hinsichtlich jener, alle Maßstäbe zerbrechenden Erlebnisse, von Gottes- oder auch mystischen Erfahrungen. Thomas muss für einen Moment, einen Augen-Blick, die fürchterliche Gnade zuteil geworden sein, dass sich der Vorhang zwischen sinnlich empfundener und erdachter Welt und dem „göttlichen“ Universum bzw. dem absoluten Urgrund geöffnet hat. Vielleicht war es ein Blick in die galaktischen Untiefen mit ihren sich weitenden, verzehrenden und undurchdringbar schwarzen Energien. Vielleicht das Eintauchen in die vollkommene metaphysische Leere ohne den Edelstein- und Engelreigen eines himmlischen Jerusalem. Vielleicht die Blendung durch das glühende, verzehrende Feuer, von dem die Bibel in Bezug auf Gott spricht. Vielleicht das Erfassen der Sternenmeere mit ihren wohl unzähligen belebten Planeten. Vielleicht der Schritt durch einen Spiegel wie bei Alice im Wunderland, der zugleich der Eintritt in eine andere Dimension ist. Vielleicht auch „nur“ eine abgrundtiefe seelische Erschütterung, die alles, einfach alles Vertraute außer Kraft setzt. Darüber jedenfalls, dass Thomas freudig oder beglückt nach dem Blitzschlag in sein Bewusstsein gewesen sei, wird nichts berichtet. Dem engelgleichen Lehrer waren seine Flügel genommen.
Mehr wissen wir nicht; und müssen mit dem unentwegt Fragenden, das aus diesem tiefen Verstummen resultiert, klarkommen. Vielleicht sogar dankbar sein, dass uns die sogenannte Anderswelt im Nichtwissen hält; denn nicht viele könnten das ertragen, was Thomas erlebte. Es brauchte wohl gerade diesen überragenden Geist, um auf „rationale“ Weise die unendliche Differenz zwischen dem Erdachten und der großen Wirklichkeit nüchtern, wenn auch niedergeschmettert, zu erkennen und ehrlich zu benennen; ohne es als Irrlichtern abzutun und ohne darauf zu achten, das eigene Lebenswerk unbeschadet zu halten. Ohne sich schließlich in „Erklärungen“ zu verstricken, die letztlich nichts erklären können.
Wir werden niemals erfahren, was Thomas sah. Doch das Verhüllte nötigt zur Reflexion. Es ist Anlass anzuerkennen, dass menschliche Annäherungen an das Absolute – und seien sie noch so gut begründet und in stimmige geistige Systeme eingehüllt – letztlich nicht tragen. Das Begrenzte muss damit leben, das Unbegrenzte niemals angemessen umfassen und sprachlich ausdrücken zu können.
Bleibt für uns trotzdem etwas aus den theologischen und philosophischen Überlegungen des Thomas?
Demut hinsichtlich des Unerkannten…
Zurückhaltung bei Allem, was den eigenen Horizont übersteigt…
Sich kein Bildnis machen…
Dogmen verwerfen. Denn es ist klein und ängstlich, sich gegenüber dem geheimnisvoll Übermächtigen zu sträuben und das sogenannt göttliche Absolute einhegen zu wollen in den Puppenstubenhorizont menschlichen Heimwehschmerzes…
Es bleibt die Einsicht, das Gott Genannte als Ausgangspunkt jeglicher Bewegung zu sehen, als erste Ursache in einem Universum, das aus Ursachen und Wirkungen besteht.
Es bleiben vor allem aber viele Grundsätze, die sich direkt auf das Leben und Zusammenleben der Menschen richten. Die sieben großen Verfehlungen seien exemplarisch genannt, hauptsächlich aber die vier kardinalen Tugenden der Klugheit/Weisheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und des angemessenen Maßes. (siehe entsprechende Blogs in der Vergangenheit)
Vielleicht gilt ja auch hier, dass wir zunächst lernen müssen mit uns selber und mit unserer Erde friedfertig und heilsam klarzukommen; um dann irgendwann, als Menschheit in uns ruhend, einem gleichfalls in sich ruhenden Universum geschwisterlich begegnen zu können. Ja, verstehend teilhaftig zu werden! Angstfrei und unerschütterbar, was uns auch begegnen möge. Und immer in der Ahnung, dass es möglicherweise doch ganz anders ist.
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