…sagen Menschen mit einem schwindenden Gedächtnis.
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In seinen letzten Lebensjahren wirkte mein Vater (1920 – 2008) oft sehr abwesend, wenn ich einmal im Monat meine hessische Heimat besuchte. Beim gemeinsamen Essen ging sein Blick oft in eine gegenstandslose Ferne, oder er saß mit gesenkten Augen still da. Einmal fragte ich: „Papa, wo bist Du gerade?“ Nach einem Schweigen, das mir sehr lang vorkam, dann die Antwort: „Eigentlich lebe ich nur noch in meiner Jugend.“
Die Erinnerung ist ein ganz eigener Lebensraum, den nur wir selber einrichten und gestalten. Wir wählen aus, wertschätzen, verwerfen, und viele dieser „Entscheidungen“ geschehen unbewusst. Sie folgen nicht zuletzt emotionalen Energien. Zumeist sind es solche, die unsere Seele berührt haben, als Wohlklang oder auch als Dissonanz.
Die gegenwärtige Zeit, mit ihren so radikalen Herausforderungen und Infragestellungen unserer Lebensweise, provoziert auch mich (Jg. 1950), gelegentlich in Vergleiche mit früher zu gehen. Teile meiner Kindheit und Jugend in den fünfziger und sechziger Jahren erstehen dann neu.
Mit als erste im Dorf hatten wir ein Auto, einen VW Standard (Käfer). Im Vergleich zum teureren VW Export fehlte ihm das glänzende Chrom an der Stoßstange und dem Fensterrahmen. Aber er ermöglichte eine ungeahnte Freiheit in den Ferienfahrten zu Campingplätzen in Dänemark, Frankreich und Italien. Was für ein Lebensgefühl. Unbeschwert, trotz eines sehr einfachen bis kargen Lebens- und Konsumstils. Daran änderte auch nichts, dass wir in manchen Lebensmittelläden in Dänemark als Deutsche nicht bedient wurden – nur ein gutes Jahrzehnt nach Ende des Krieges.
1957/1958 bekamen wir den ersten Fernseher. Es gab eigentlich nur die ARD, mit wenigen Sendestunden. Aber nahe an der innerdeutschen Grenze konnten wir das DDR-Programm empfangen und guckten dann manchmal nachmittags „Osten“. Denn da gab es vor allem die wunderschönen tschecholslowakischen Puppenspiel- und Abenteuerfilme. Eine ganz eigene Traumwelt.
1959 dann das erste Telefon. Es war ein schwarzes Wählscheiben-Wandtelefon, das im Flur hing. Manchmal kam der Nachbar, der kein Telefon hatte, führte ein Ortsgespräch und bezahlte dafür 16 Pfennige. Die nächste Telefonzelle war weit. Im Flur telefonierend, konnte jeder in jedem Zimmer alles hören. Intimität bot deshalb nur die Zelle – zehn Minuten hin, zehn Minuten zurück. Das blieb so, bis ich mit 18 zum Studium auszog.
Die erste Blue-Jeans gab’s mit 10. Sie war ein deutsches Imitat, Lewis waren unerschwinglich. Die erste Single-Schallplatte ließ das Taschengeld mit 14 zu: „I Want To Hold Your Hand“ mit den Beatles. Hunderte mal auf dem Plattenspieler der Eltern gehört; eine ganz neue Welt begann sich zu öffnen…
Das alles war – von heute aus betrachtet – wahrhaft nicht viel. Aber es war, vielleicht gerade deshalb, besonders. Und es reichte. Ohne den Sog nach immer mehr.
Dieses, mein „Früher“, will ich nicht bewerten, ihm nicht besser oder schlechter zurufen. Es war anders als die Gegenwart. Und mit den Augen und Empfindungen eines Kindes wunderbar. Dass parallel zu dieser Erfahrungswelt noch oberirdische Atomwaffenversuche durchgeführt wurden, DDT und E 605 noch selbstverständlich eingesetzt wurden, Frauen ohne Zustimmung ihres Ehemannes weder einen Beruf ausüben noch einen Führerschein machen durften, Homosexualität noch strafbar war und du wegen des Kuppelparagraphen eigentlich kein Mädel mit aufs Zimmer nehmen durftest….das ist eine andere Geschichte vom „Früher“.
(Das Foto meines Vaters aus dem Jahr 1955 zeigt meine Schwester und mich)
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