Die Rückkehr des Mythos

ClausAllgemein

Seit es die menschliche Kultur und damit die Frage nach dem Sinn des Seins gibt, bestimmen Mythen das menschliche Bewusstsein. Sie stammen aus einem tiefenkulturellen, überzeitlichen Seinswissen. Manche geben Antworten auf die großen Menschheitsfragen. Sie deuten das Unerklärliche, mahnen, zeigen den Weg, schenken Hoffnung. Sie verweisen auf das Größere, zielen auf das Ganze des Seins und der Wirklichkeit von Welt. Recht verstanden, befreien sie den Menschen zu seinen schönsten Möglichkeiten. Aber es ist ihnen auch eigen, missverstanden und instrumentalisiert zu werden. Zudem verhindert ihr Absolutheitsanspruch oft zeitbezogene Deutungen, die sich auf neue Erkenntnisse stützen. Dann wächst auf ihrem Boden Fundamentalismus, werden der freie Geist und eine freie Spiritualität blockiert.

Es ist der geschichtlichen Phase der Aufklärung geschuldet, falsche Mythen der Menschheit entlarvt, manche zerschlagen, andere gereinigt zu haben. Phantastereien, Kaffeesatzlesereien und religiöse Kopfgeburten verloren ihre Macht im Aufbranden der rationalen und wissenschaftlichen Weltbilder. Doch Menschen können ohne Mythen nicht leben, geben sie doch eine Antwort auf unser Woher und unser Wohin – im Großen wie im Kleinen. Auch erwacht heute wieder die Einsicht, dass die aus einem authentischen und überzeitlichen Mythos entstandenen kulturellen Kraftfelder normgebend und moralisch regulierend wirken können, ohne dass dafür Instanzen installiert werden müssten.

Kulturen verlieren ohne einen tieferen Zugang zu ihrem Ursprung und ihrer Gewordenheit an Identität. Sie erodieren und beginnen sich aufzulösen. Vielleicht liegt darin ein unbewusster Grund, dass die Entmythisierung einer Kultur immer dort ihre Grenzen findet, wo die Tiefe des Mythos und seine innere Wahrheit auf die Sehnsucht des Menschen trifft. Verschmelzen beide, entsteht Geborgenheit in einer ansonsten unüberschaubaren äußeren Welt. Ohne mythische Beheimatung bzw. zumindest einen entsprechenden Orientierungsrahmen bleiben wir als Strandgut ohne Beziehung zu unseren Wurzeln, zu unserer inneren Ausrichtung und damit zu unserem größeren Selbst.

Die Renaissance des Mythischen in der Gegenwart hängt mit der Krise der sogenannten Rationalität zusammen. Deren Kälte, Rasanz und Gefühllosigkeit stoßen genauso ab, wie die Erkenntnisfeindlichkeit hinsichtlich von allem, was nicht messbar ist und nicht den Gesetzen der wissenschaftlichen oder ökonomischen Logik folgt. Die Sehnsucht nach Wärme, Stabilität und Vertrautheit ist eine mehr oder weniger zwangsläufige Folge. Obdachlosigkeit schreit nach Heimat und Angenommensein. Es ist der Ruf danach, durch das die Zeiten Überdauernde und Überwindende getragen zu werden. Nun wird offenbar, dass durch das, was die Moderne versprach, aber nie ganz eingelöst hat, die subversive Kraft des Unerfüllten neu geweckt wurde. Was Jahrhunderte lang als Verheißung galt, sieht sich nun mit dem Vorwurf konfrontiert, zugleich die wahren Möglichkeiten zur Menschwerdung blockiert zu haben.

Der Ruf des Mythos heute ist deshalb der nach Einheit inmitten aller Zerstreuung: Einheit von Ratio und Spiritualität; Einheit hinter allen Widersprüchen; Einheit des Lebens in einem auseinanderstrebenden Universum.

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