Verzeih!

ClausAllgemein

Jeder Mensch hat seine eigenen Wahrnehmungen, seine eigenen Empfindsamkeiten, entsprechende Weiten und Grenzen. Was vom Ich als spielerischer Gestus gemeint sein kann, trifft das Du als Kränkung. Was Dir als Ratschlag über die Lippen kommt, bewegt sich auf mich zu wie ein Geschoss. Nicht intendiert und doch Spuren hinterlassend – manchmal nur leicht getroffen, manchmal erschüttert.
Um so einschneidender ist, wenn eine spürbare Absicht dahintersteht oder es sich um eine jener Leichtfertigkeiten handelt, die mit ein wenig Achtsamkeit und situativer Empathie vermeidbar gewesen wären. Noch dramatischer intervenieren schließlich jene Szenen, die mit einer Beschädigung des Selbstwertgefühls oder einem tiefen Vertrauensbruch einhergehen. Dann wird Verzeihen zu einer außerordentlichen Herausforderung. In die Richtung aller Beteiligten.

Verzeihen ist ein innerer Prozess des Loslassens auf verschiedensten Ebenen. Das braucht Zeit, denn manches regt sich immer wieder, auch wenn wir glauben, uns innerlich bereits geklärt zu haben, um wieder frei von quälenden Gedanken zu werden. Verzeihen lebt von Geduld – mit dem/den Anderen und mit sich selbst. Und es lebt vom Abstand zu dem Geschehen, um nicht zu stark von Gefühlen getrieben zu sein.
Geduld und die damit einhergehende, manchmal durchaus lange Zeit sind nötig, weil Verletzungen vielschichtig sein können. Oft sind sie mit uralten anderen Verwundungen verknüpft. Auch muss Gewissheit sich entwickeln, verzeihen zu wollen – scheint manches zunächst doch unverzeihlich.

Verzeihen lebt von der Akzeptanz – des Vergangenen und der aktuellen Situation. Was geschehen ist, wird genau so als unabänderlich wahrgenommen, wie die Konsequenzen, die es mit sich brachte. Das fordert. Und es erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion. Was z.B. ist mein Anteil an dem, was ich nun einem anderen Menschen zu verzeihen gedenke? Hat etwas meinerseits bewusst oder unbewusst den nun zu verzeihenden Akt mit hervorgebracht bzw. beeinflusst?

Der Prozess des Verzeihens ist in sich selbst begründet. Er hängt nicht an dem Schuldeingeständnis oder gar der Reue des Gegenüber.

Verzeihen zieht einen Schlussstrich. Ein sich verletzt fühlender Mensch bewegt sich aus dem Opferstatus in die Selbstermächtigung. Er tritt mit seiner Initiative ins Handeln, stellt sich nach seinen eigenen Regeln neu auf. Das macht zwar nichts ungeschehen. Aber es lässt sich besser damit leben, bringt den Selbstrespekt zurück und erleichtert es, sich neu zu öffnen.

Verzeihen muss ein Herzenswunsch sein und entsprechend erspürt und geprüft, damit nicht Unerkanntes und Unbearbeitetes sich beständig regt und das Konfliktfeld erneut öffnet.
Es will also zu einem Neuanfang führen, was nicht unbedingt bedeuten muss, gemeinsam weiter zu gehen. Das zu Verzeihende sollte nüchtern angeschaut werden, damit die eigenen Lebensillusionen deutlich werden.
Das erfordert Mut. Doch nur so kommt es zu dem notwendigen tiefen Verstehen des Geschehenen. Eine über den eigenen Interessen und Gefühlen liegende Metaperspektive und eine entsprechende Gelasssenheit unterstützen den Prozess. Mit dem Auge der Weisheit stellt alles Geschehen sich noch einmal anders dar.

Auch wenn es von einer Seite ausgeht, ist Verzeihen grundsätzlich ein wechselseitiger Prozess. Im günstigsten Falle bringt er Entlastung für alle Beteiligten mit sich. Wobei auch klargestellt sein sollte, dass nicht alle Spannungszustände zwischen Menschen und alle Kränkungsempfindungen des Verzeihens bedürfen. Geschieht doch manches „einfach so“, im Verlauf von Lebens- und Alltagsroutinen und damit einhergehender Selbstverständlichkeiten. Überempfindlichkeiten, die gerade unsere gegenwärtige kulturelle Phase so lästig prägen, können schnell dazu führen, dass sich um Verzeihung Nachsuchende und Verzeihende aus einer entsprechenden Daueranforderung nicht mehr herausbewegen können. Ein latent schlechtes Gewissen inbegriffen.

Das Verständnis von Schuld spielt hier eine entscheidende Rolle. Der Begriff sollte geklärt sein, wenn Schuldgefühle bestehen bzw. man einem Anderen Schuld an etwas gibt.
Nach meiner Auffassung entsteht Schuld nur da, wo willentlich und wissentlich Grenzen überschritten werden, die anderes Leben verletzen bzw. seine Potentiale blockieren. Alles andere erfordert kein wirkliches Verzeihen, sondern kann durch Verstehen und im Gespräch geklärt werden.

Dass einem verziehen wird, kann für den betroffenen Menschen eine Zumutung sein. „Was nimmst Du Dir heraus, wie sehr überhöhst Du Dich, dass Du glaubst mir verzeihen zu können?“ Verzeihen gilt es deshalb, wenn es sich nicht still im Innern ereignet, so zu kommunizieren, dass der Andere sich nicht gedemütigt sieht. Und es gilt, die Lauterkeit der eigenen Motive für das Verzeihen zu prüfen.

Ereignet sich Verzeihen, ist es ohne Wenn und Aber. Es schließt ein lebensgeschichtliches Kapitel ab. Ohne eine Kultur des Verzeihens, verbleibt unerlöste Energie als Dauerzustand im Raum unserer Sozialität. Dabei ist weniger von Belang, ob wir selber davon wissen oder ob das Verzeihen sich unausgesprochen ganz im Hintergrund ereignet und so auf sanfte Weise neue gemeinsame Möglichkeitsräume öffnet. 

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