Die Unterscheidung in Lebensanschauung und Weltanschauung markiert Ecksteine in dem Gebäude der Lebens-Ethik Albert Schweitzers, dessen 150. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird.
Für die Auseinandersetzungen und Klärungsnotwendigkeiten der Gegenwart sind beide Begrifflichkeiten von wegweisender Bedeutung. Denn in ihnen liegt der Maßstab zur Auflösung so mancher Argumentationsdilemmata – etwa bei Krieg, Kriegstüchtigkeit und Wegen zum Frieden oder bei dem Verhältnis von Wirtschaftswachstum und einer Ehrfurcht vor dem Leben.
Die Auseinandersetzung mit kulturell/politischen Grundsatzfragen bedarf zunächst grundsätzlich einer Bestimmung, von welcher Perspektive aus argumentiert wird. Orientiert sie sich innersystemisch und an einer entsprechenden Argumentationslogik, oder ruht sie in einer die Zeiten übergreifenden, evolutionären Sichtweise. Und was gehört jeweils dazu? Wähle ich also die Orientierung an einer mehr oder weniger beliebigen, weil dem Zeitgeist geschuldeten Weltanschauung, oder hole ich Rat in einer grundlegenden Lebensanschauung? Beide repräsentieren im Alltagsdenken unterschiedliche Wahrnehmungs- und Handlungsfelder. Weltanschauung weist eher auf Tun, Lebensanschauung mehr auf Lassen. Als Maßstab dient die Frage: Was dient dem Leben und seinen Prozessen, bzw. was brauchen Systeme, um funktionstüchtig zu sein? Und lässt sich das vereinbaren?
Die Lebensanschauung erwächst aus dem in uns erkannten und angenommenen Willen zum Leben, den wir auch allem anderen Leben zugestehen. Sie führt in die Lebensbejahung und wird so zum Fundament eines jeglichen Ethos. Darüber weitet sie sich hin zur Weltbejahung und einer entsprechenden Weltanschauung. Sie kann und muss, wie das Lebensethos selbst, denkend erkannt und sodann lebenspraktisch integriert werden. Das Schlüsselverständnis und die Schlüsselhaltung des menschlichen Seins dafür lautet: Ehrfurcht vor dem Leben. Sage ja zum Leben, wie es ist – in all seinen wunderbaren, aber auch den schmerzhaften oder schlichtweg unverständlichen Aspekten.
Die Lebensanschauung weist somit der Weltanschauung den Weg, nicht umgekehrt. So wie eine gute Moral immer dem überzeitlichen Ethos folgt und sich nicht den Mächten und Interessen des Gegenwärtigen unterwirft. Beginnt die Weltanschauung zu sehr unter den Verirrungen des gesellschaftlichen So-Seins zu leiden, ist es die Vertiefung in die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, die zu Korrekturen drängt.
So finden wir zurück zu einer humanistischen Haltung und weitergehend zur grundsätzlichen Lebensdienlichkeit. Dies wiederum ist zugleich die Voraussetzung für tiefenkulturelle demokratische Prozesse, die auf gegenseitiger Achtung beruhen und nicht bloß verkrampft legalistische Vorgaben umsetzen.
Die der Lebensanschauung folgende Weltanschauung ist eine enorme geistige Herausforderung für jegliche Epoche. Denn stets will das Gegenwärtige und Aktuelle, das von politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Vorformulierte, sich in Weisen und Haltungen ausdrücken, die zwar entsprechend an- und eingepasst sind, gleichwohl ohne den lebensdienlichen Wesenskern zu trüben.
Es waren in der Vergangenheit vom Leben entfremdete, materialistische Weltanschauungen, die Völker und Kulturen in den Abgrund gerissen haben. Sie waren zumeist stärker als der Edelmut einzelner politischer Persönlichkeiten. So auch in der momentanen Weltzeitstunde. Mit großer Gewissheit kann deshalb gesagt werden, dass der vor dem Menschengeschlecht liegende Neuaufbau von Kultur und Erdpolitik an einem Neuerstehen der Weltanschauung hängt.
Selbstredend gilt es dabei aus der Geschichte zu lernen, allerdings ohne sich ihr rückwärtsgewandt auszuliefern. Die Lebensmelodie des Zukünftigen braucht Raum, damit ihr Klang uns berührt und zieht.
In Lebensanschauung, also in sich selbst als Leben und Lebenswille ruhend, dies auch anderem Leben zugestehend, vermögen ein Mensch und auch eine Kultur jenes Glück zu finden, das mehr ist als ein ständiger Niedergang, ein permanent der Vergänglichkeit Unterworfenes.
Die medialen Bewusstseins- und Ablenkungsmaschinen, ob als Massenmedien oder sogenannte soziale Netzwerke, stehen allerdings einer solchen Ausrichtung nur zu oft, wenn auch nicht grundsätzlich, entgegen. Weltanschauung, die in Lebensanschauung gründet, benötigt deshalb einen unmittelbaren Seinszugang, um der rasend fortschreitenden Entfremdung etwas entgegenzusetzen. In Begegnung und bewusster Lebenswahrnehmung liegt der Schlüssel. Er öffnet das innere Tor zu jener ergreifenden Empfindung, die mit Albert Schweitzer den Namen „Ehrfurcht vor dem Leben“ trägt. An ihr hängt alle Zukünftigkeit.
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