Häutung und Hindurch

Clausinterbeing

Es sind so viele Ereignisse, die uns im Großen und im Kleinen, national und global, zeigen, wie fragil das Leben und Zusammenleben auf diesem wunderbaren Planeten geworden ist.  Wohl ist es zwar auch das Ereignis als solches, das uns dabei bewegt und manchmal erschüttert; vor allem aber ist es unsere Art und Weise darauf zu schauen! Und dieses Schauen hat immer auch mit unseren Erfahrungen, Erwartungen, Wünschen und Projektionen zu tun.
Nichts Neues entsteht ohne Vergehen des Alten. Und dies ist schmerzhaft, wenn wir an dem Vergehenden klammern. Dies scheint mir sehr grundsätzlich zu gelten. Es betrifft die Wellenbewegungen unseres Lebens, die Oktavbögen unseres Seins genauso wie evolutionäre Prozesse und damit das momentane Sein und den momentanen Zustand unserer Gattung insgesamt. So gesehen, geht es nicht um Rettung des Alten (was Strukturen, Lehren, Ideologien, kulturelle Selbstverständlichkeiten etc. betrifft), sondern um die Akzeptanz des Hindurch. Dazu gehört die Annahme der notwendigen Transformation dessen, was sich überlebt hat und seine Destruktivität so intensiv entfalten durfte.

Wir können nicht den nächsten notwendigen Schritt zur Versöhnung mit dem Leben an sich gehen, ohne dass die destruktiven Seiten des Alten kollabieren – auch wenn der Preis dafür hoch sein und viele Opfer erfordern wird. Wenn wir diesen Gedanken einmal einen Moment akzeptieren, dann zeigt sich in der gegenwärtigen Zunahme an Komplexität, an Unberechenbarkeit und planetarischer Bedrohung (nicht des Planeten an sich, sondern von uns) „nichts weiter“ als ein evolutionärer Impuls. Man kann es sehen als eine widerständige Energie, die sich im Auf-die-Spitze-Treiben des an sich als überlebt Erkannten ausdrückt. Das ist ein Häutungsprozess, und da kannst du deine alten liebgewonnenen Kleider, Masken und die darauf bezogene und angelegte Schminke nicht anbehalten. Sie wird dir vom Leib gerissen, wenn du nicht frühzeitig mit dem Umkleiden beginnst. Und das muss so sein.

Für Gruppen und Bewegungen, die sich der Heilung des verwundeten Lebens verschrieben haben, mag das dann wohl heißen: Wir sollten bei aller Aktivität zunächst verstehen, dass wir als Gattung inmitten des Scheiterns stehen, und das gilt es zu respektieren und anzunehmen. Wir sollten aufhören, uns etwas vorzumachen und uns ganz auf das für die Zukunft Heilende und Lebensdienliche ausrichten. Es gilt schon jetzt an den vorbereitenden Strukturen des Neuen zu arbeiten.  Das fordert vor allem die Einsicht, dass die gewohnten, uns vertrauten und ausgetretenen Wege der Vergangenheit und Gegenwart dem nicht mehr dienen, dabei nicht helfen können.

Natürlich sind wir dabei immer auch für uns selbst und für das gegenwärtige Leben da, um bewahren zu helfen, was bewahrenswert ist, die Arten zu schützen und Wunden zu verbinden. Aber der evolutionäre Auftrag liegt daneben in der Hingabe für die Kommenden. Für sie wollen wir Möglichkeiten schaffen, dass menschliches Leben eines Tages wirklich mit Albert Schweitzer heißt: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will….“

Das also, was wir im Moment als so bedrohlich empfinden, es wird notwendiger Teil dessen sein, was als Potentialität in unserer Gattung ruht und auf eine neue Entfaltungsstufe zustrebt. Und dieser Weg führt eben durch all das hindurch, was wir als Desaster erleben. Aber genau dieses „Desaster“ ist eben „nur“ unsere sentimentale Blickweise darauf. Betrachten wir es einmal aus den Augen derer, die in vielleicht 100, 200 oder 300 Jahren leben und die ganz anders auf diesen Häutungsprozess schauen können. Vielleicht sehen sie ihn als Segen für ihr Sein.

Die hohe Kunst scheint mir in diesem Prozess zu sein, dabei die Liebe nicht nur nicht zu verlieren, sondern sie sogar neu zu entdecken und neu zu entfalten. Dazu gehört auch, allem, was uns begegnet, mit Schönheit, mit Ästhetik und mit Würde gegenüberzutreten und dadurch genau diese auch immer wieder neu zu befreien. Denn im Letzten können uns nur die Liebe und die Schönheit und die Würde Orientierung in dem Hindurch bieten. Martin Buber schrieb in seinem Buch „Pfade in Utopia“ (1950): „Hindurch aber werden wir nur kommen, wenn wir wissen, wohin wir wollen“. Woher sollen wir das wissen, wenn es uns nicht diese drei lehren: Liebe, Schönheit, Würde… Wer, wenn nicht diese Wesenheiten, können in ein Handeln führen, das uns neue Kulturtechniken für die nun frisch Geborenen auf unserer Erde lehrt. Es kann nicht mehr um  eine Fortsetzung des Verhängnisvollen gehen, das die Eltern dieser Neugeborenen und der Kommenden noch als „alternativlos“ kennen gelernt haben und das sie täglich selbstverständlich und mit Spaß und damit in selbstverschuldeter Unmündigkeit praktizieren.

Mai 2017

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