Vom poetischen Wert der Sprachlosigkeit

ClausAllgemein

Ein Gastbeitrag von Mike Kauschke

Das Leben macht uns sprachlos. Immer wieder. In der letzten Zeit ist es mir noch einmal intensiver bewusst geworden, wie ich angesichts von Geschichten von Menschen aus dem Krieg in der Ukraine oder des Artensterbens und der Vernichtung der lebendigen Mitwelt sprachlos werde. Ebenso in Gesprächen, die sich den letzten Fragen des Menschseins nähern, wie Leiden und Tod. Aber auch in der Begegnung mit überwältigender Schönheit.
Diese Sprachlosigkeit ist mir kostbar geworden, heilsam. Denn in solchen Momenten der Sprachlosigkeit kommt das gewohnte Denken zum Erliegen, läuft sich aus. Alles, was mir als Wissen zur Verfügung steht, scheint nicht umfassend genug, um eine Antwort zu finden. Das rationale Denken, mit dem ich die Welt kontrolliere, von mir getrennte Gegenstände erkenne, und aus meinem angeeigneten Wissen spreche und handle, versiegt und im Bewusstsein öffnet sich eine Leere, eine Offenheit, in der ich das, was da ist, einfach nur wahrnehme, aufscheinen lasse. So wie es ist.

Wenn ich die Angst vor diesem Abgrund überwinde und mich nicht an meine Fähigkeit, etwas rational zu verstehen und einzuordnen, klammere, dann kann aus der Leere ein Licht aufscheinen. Ich bin da. Staunend. Fragend. Zugewandt. Vielleicht sogar liebend. Ich sehe den oder die Menschen vor mir, spüre, höre, sehe, was in ihnen lebt. Und bin da. Manchmal ist genau dieses Dasein das Tor zu einer echten Begegnung, die heilt. Aus dem Dasein heraus können auch neue Gedanken und Impulse entstehen, um auf diese Situation zu antworten. Oder wie es die feministische Lebensforscherin Donna Haraway formuliert: „Gute Gedanken entstehen immer im Moment der Sprachlosigkeit.“ Und jenseits dieses Abgrunds des Nichtwissens finden wir auch eine neue Sprache und damit eine neue Beziehung zur Welt.

Im Durchgang durch die Sprachlosigkeit kann sich unsere Sprache wandeln. Und wir mit ihr. Sie kann stiller, behutsamer, tastender werden. Poetischer. Die Poesie ist eine Form der Sprache, in der es Raum gibt für Sprachlosigkeit, sie ist Sprache jenseits der Sprachlosigkeit, Sprache, die die Sprachlosigkeit durchlaufen hat.

Poesie muss nicht wissen, sie kann im Nicht-Wissen atmen. Im poetischen Sprechen will ich der Welt antworten, aber nicht so, dass ich ihr meine Meinung aufdrücke oder sie „dingfest“ machen will, sondern ein anderes Wesen erreichen, ansprechen möchte. Eine solche suchende Sprache muss nicht Recht haben, kann anderen zuhören, kann Widersprüche da sein lassen, kann Anderssein als Bereicherung annehmen. Sie stiftet vielleicht sogar Frieden.
Von der Dichterin Ingeborg Bachmann stammt der Satz: „Hätten wir das Wort, hätten wir die Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht.“ Es mag naiv klingen, von der Sprache solch eine Friedensmission zu erwarten. Aber doch denke ich, dass jeder von uns Friedensarbeit leisten kann, indem wir unsere Sprache abrüsten. Sie offener, lauschender, fragender, poetischer werden lassen. Ihr eine Kraft geben, die nicht aus dem Rechthaben kommt, sondern dem, was uns wirklich wichtig ist.
Und vor allem auch, indem wir die Sprachlosigkeit, das Nichtwissen, die Ungewissheit sein lassen können. Auch zwischen uns. Denn daraus kann sich, so habe ich immer wieder erfahren, eine Berührung ereignen, die uns im Urgrund unseres Menschseins verbindet, umfasst und trägt. Uns alle. Auch diejenigen, die anders denken, leben, sind.

Es gibt einige Zeilen aus einem Gedicht des ukrainischen Dichters Serhij Zhadan, die mich seit einigen Wochen begleiten. Zhadan dokumentiert seit 2014 den Konflikt in der Ost-Ukraine mit seinen Texten und engagiert sich in sozialen Projekten. Er schreibt:
Der Wert eines Gedichts steigt im Winter.
Vor allem in einem harten Winter.
Vor allem in einer leisen Sprache.
Vor allem in unberechenbaren Zeiten.

Ich glaube, dass Poesie heute überlebenswichtig geworden ist. Weil wir einen harten Winter erleben, weil wir in unberechenbaren Zeiten leben. Weil die Sprache leise wird und verstummt, bei dem, was geschieht in der Welt. Und wir gerade deshalb ein neues Sprechen erlernen können. Vielleicht eine leise Sprache, die andere nicht überzeugen, erregen, bekämpfen will. Sondern eine, die verstehen, aussprechen, berühren und begegnen will. Und das ist Poesie.

Die meisten von uns wissen, wenn uns ein Gedicht so berührt. Wir sind sprachlos. Wir halten inne, weil wir angerührt wurden vom tiefen Mysterium unseres Seins. Wir verstummen, lauschen. Wenn wir dann wieder beginnen zu sprechen, ist es eine offene, eine verletzliche Sprache. Auch dort, wo sie klare Grenzen ziehen und vielleicht sogar kämpfen muss, bleibt sie in der Verbundenheit, in der Liebe. Oder wie es Serhij Zhadan in einem anderen Gedicht ausspricht:

Seid ihr bereit,
so leidenschaftlich zu rezitieren,
als küsstet ihr den eigenen Atem,
als erklärtet ihr dem Sauerstoff des Landes eure Liebe?
Seid ihr bereit zu sprechen als hinge von euren Worten
die Zukunft der Zivilisation ab?

***

Mike Kauschke ist Autor, Übersetzer und leitender Redakteur von evolve. Er lebt im Chiemgau.
Gerade ist von ihm das Buch erschienen:
Auf der Suche nach der verlorenen Welt. Eine Reise zur poetischen Dimension unseres Lebens. (Kamphausen)
http://www.poetische-lebenskunst.de

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