Begegnung und Empfindung

ClausAllgemein

Der Zustand auf unserem Planeten, die ausbeuterische Ignoranz des Menschen gegenüber Mutter Erde, hängen wesentlich mit der Unfähigkeit zusammen, das Leben als solches zu spüren. Da ist keine Empfindung für das Ganze und zugleich für seine Ausformungen in so unendlich vielen Gestalten. Nur das, wo der Zugang fehlt, man nicht berührt ist, keine Verbundenheit und Nähe wahrnimmt – nur solches kann so gedankenlos und im Letzten verachtend behandelt werden.

Ohne ihm das ankreiden zu können, liebt der Mensch die Erde, das Lebewesen, dessen Teil er selber ist, nicht von innen her. Es ist ihm ein Außen, ein überwiegend Fremdes, oft nur bloßer Zweck. Er hat sich in seinem Selbstbezug, seiner Entfremdung und seinem konsumierenden Wohlbehagen eingerichtet. Vom Bewusstsein vielleicht als Notwendigkeit erkannt, ist für Seele und Herz die Verbindung zum Strom des Lebens noch verschlossen.

Auch wenn man Liebe nicht zwingen, nicht verordnen kann. Durch Lernen, Einsicht und vor allem durch gesuchte Begegnung kann man sich ihrem Kraftfeld nähern. Vorausgesetzt, wir sind bereit, das Schloss zu den Sinnen hin zu öffnen, vermag sie sich dann in uns auszubreiten.

Ein Rassist wird nicht durch Moralpredigten oder Gesetze tolerant. Aber die direkte Begegnung mit dem Anderen und Fremden kann etwas auslösen. Sie vermag einen Zaun einzureißen, der aus evolutionär bedingter Abwehr, Unkenntnis, Erziehung und sozialem/gesellschaftlichem Klima gezimmert war.
Die Begegnung führt ins Spüren. Die Annäherung weckt unsere Sinne. Und sinnliche Wahrnehmung kann manches Vorurteil brechen. Die Berührung unterstützt einen suchenden und öffnet möglicherweise einen verstockten Geist. Sie fügt der gedanklichen Innenwelt die innere Fühlwelt hinzu. So können sich rational Erkanntes und Empfindungswahrheit verbinden.

Nehmen wir als Beispiel das Sterben der Wälder. Wir haben verstanden, warum es sich ereignet und das auch verinnerlicht. Und die riesigen abgeholzten bzw. abgestorbenen Flächen, etwa im Harz oder in Nordhessen, sehen ja nun auch wirklich nicht nett aus. Aber das Lebewesen Wald in seinem Vergehen spüren? Das Leiden der zurückgedrängten und vernichteten Lebensformen und Arten als eigenen körperlichen Schmerz wahrnehmen?

Wenn in der Verwahrlosung „zivilisatorischer“ Alltagsgestaltung dieses kindliche, unschuldige, reine Mitempfinden abhanden gekommen ist; der Mensch nicht mehr in sich hineinschreien kann ob dieses Grauens … Haben wir dann noch eine andere Chance, als uns dem Energiefluss in der Natur bewusst auszusetzen und wieder durchlässiger zu werden?
Das allerdings lässt sich nicht erdenken. Es erfordert eine Reinigung vom Gedankenmüll, durch den Weg in die Stille und den dahinter liegenden Empfindungsraum, durch kontemplative Praxis. Den Kopf befreien von den Trennungsgedanken und Abgrenzungsphantasien. Einssein und Nichtzweiheit nicht nur vom Intellekt her verstehen, sondern atmend in sie eintauchen, verschmelzen. Und heil, also ganz wieder auftauchen.

Es ist ein Erlernen von empfindender Hingabe an das Leben selbst, das uns doch überall begegnet – in jedem Halm, jeder Rose, jedem gefiederten Freund, jedem in einer der Tötungsfabriken gemarterten Schwein oder Rind; und nicht zuletzt in den zunehmend verschmutzten Elementen Erde, Wasser und Luft.

In einem seiner Gedichte für Karl Graf Lanckoronski findet Rainer Maria Rilke angemessene Worte hinsichtlich der von uns geforderten Sensibilität:

Das Leiseste darf ihnen nicht entgehen,
sie müssen jenen Ausschlagswinkel sehen,
zu dem der Zeiger sich kaum merklich rührt,
und müssen gleichsam mit den Augenlidern
des leichten Falters Flügelschlag erwidern,
und müssen spüren, was die Blume spürt
.

Unsere Innenwelt ist mit allem ausgestattet, was wir benötigen, um in hoher Empfindsamkeit und Empathie dem gerecht zu werden, was Albert Schweitzer in seiner Grundformel der Lebensethik ausdrückte – nämlich dass wir Leben sind, das leben will, inmitten von anderem Leben, das ebenfalls leben will. Solches Leben in seiner unendlichen Vielfalt zusammengenommen, trägt den Namen der Göttin Gaia, Erde genannt. Wir sind ihre Kinder. Wir verdanken ihr ausnahmslos alles. Es wird Zeit, sich daran zu erinnern und sich endlich auf den Weg zu begeben. Die Wunden versorgen, ein kleines Stück Boden heilen, dem anderen Leben Raum schaffen, sich selbst heilen…

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