Die Grenze als Freiheit

ClausAllgemein

Grenzen sind dem Sein immanent. Unsere Endlichkeit und Vergänglichkeit strahlen als Archetypus der Grenze über jegliche Lebensphänomene, nicht nur die personalen. Nichts existiert, vielleicht den visionären Geist einmal ausgenommen, was sich nicht daran orientieren müsste. Zugleich ist dies die existentiellste Provokation, resultierend aus der narzisstischen Kränkung, die in der Grenzziehung selber liegt.

Grenzen sind verantwortlich für ein Verständnis von Innen und Außen. Sie bestimmen biologische Prozesse, schützen den Körper als Haut, markieren Staaten und Territorien, sind Basis des Rechts und der Normengerüste. Sie hegen ein, grenzen aus, gewähren aber auch Schutz. Sie bieten Orientierung mittels Überschaubarkeit und Verstehen, nicht zuletzt durch eine gemeinsame Sprache und eine Kultur, die mit gemeinsamen Interessen verbunden ist. Grenzen bestimmen das Ich und das Du und auch das Wir. Sie stiften Identität.
In unserem Innern wahren sie in Verbindung mit dem Gewissen einen Regelungsmechanismus, der vor sozialer Abweichung, Sucht oder Abhängigkeit schützt und der als wesentliche Voraussetzung für Selbstachtung gesehen werden kann.

Fehlen innere Orientierungen, Verhaltensperspektiven und Regelungsmechanismen, erwachsen daraus manchmal Ratlosigkeit und Handlungsinkompetenz, manchmal auch Beliebigkeit. Der betroffene Mensch ist nicht nur abgeschnitten von sozialen und systemischen Selbstverständlichkeiten. Er ist auch in gewissem Sinne ortlos. Seine Bindung und darauf bezogene Verlässlichkeit, ohne die niemand leben kann, wenn er sich nicht als verloren bzw. isoliert wahrnehmen möchte, sind geschwächt. Denn Bindungsfähigkeit, Bindung und Verbundenheit bedeuten immer auch eine freiwillig konstatierte Genügsamkeit. Damit einher geht die Akzeptanz von Grenzziehungen, nicht nur im Umgang miteinander.

Manche Menschen kultivieren geradezu eine innere Distanz zu Grenzziehungen und darauf bezogenen Verhaltensansprüchen. Sie verknüpfen das dann wie selbstverständlich mit der fordernden Erwartung, dass die Normen und Regelungsverfahren für das soziale Sein ständig neu, selbstredend auf sie selber hin, konstruiert werden müssen. Werden eine solche Ich-bezogene Unverbindlichkeit und Beliebigkeit innerhalb der Gesellschaft auch noch als kreativ und innovativ goutiert, schaltet das letzte Reste der Fähigkeit zu Selbstreflexion, Selbstkritik und Widerspruchstoleranz aus. Die sogenannte Identitätspolitik der Gegenwart ist dafür ein markantes Beispiel.

Gleichwohl sind Grenzen nicht starr. Sie überlappen und verschieben sich, unterliegen im historischen und evolutionären Wandel sich verändernden Definitionen und daraus folgenden Markierungen. Ihre Dialektik zeigt sich vor allem in dem nur scheinbaren Widerspruch, dass sie einerseits ihre Einhaltung fordern, gleichzeitig Überschreitung provozieren, um neue Dimensionen zu öffnen.
Solche Grenzüberschreitung, mag sie aus Interesse, mag sie aus Ohnmachtserfahrungen, mag sie aus gesellschaftlicher Notwendigkeit geboren werden, kann als Treiber für nahezu jede kulturelle und zivilisatorische Entwicklung gesehen werden; denken wir etwa an die moderne Medizin, die Mobilitätstechnik bis hin zur Raumfahrt, die Wissenschaft und die Kunst in all ihren Erscheinungsformen. Auch das Religiöse ist davon nicht ausgenommen, wie sich in der Sehnsucht nach Transzendenz, der Absolutheitssehnsucht selber und mannigfachen mystischen Bewegungen zeigt.

Die anthropologisch und kulturell sinnvolle und unverzichtbare Grenze will nicht blinden Gehorsam provozieren, nicht fremdbestimmte Unmündigkeit und Handlungseinschränkung. Sie will Selbstreflexion und Selbstfindung fördern und das Vertrautwerden mit der sozialen Einbettung, der jedes Leben auf seine Weise bedarf. Fällt allerdings in diesem Bilde Grenzziehung willkürlich, nicht vermittelbar, ja unsinnig und gemeinschaftsschädlich aus, ist sie der Ausgangspunkt für eine notwendige Revolte und damit verbundener Entwicklung.
Erinnern wir uns an den Abschied aus Eden durch die willentliche Missachtung des „göttlichen“ Verbots, Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen. Diese Ignoranz und die damit verbundene Grenzüberschreitung führten überhaupt erst zum Beginn des Menschseins, heraus aus einer fürsorglichen, paradiesisch genannten Einkerkerung. Jener Urmythos der Grenzüberschreitung weist zugleich darauf hin, dass es nur wenige Grenzen gibt, die nicht mit einer Überschreitungsmöglichkeit verbunden sind. Schon deshalb wollen sie, ohne dass man sie gleich aufgeben muss, immer wieder neu begründet werden.

Grenzen, die wir uns oft als schroffen Bruch und als Verhinderung vorstellen, sind im selben Moment ein unverzichtbarer Erfahrungsraum. Unendliche Lebenszeitmomente verbringen wir darin. Wachstum als soziales und kulturelles Wesen scheint ohne sie nicht vorstellbar. Sie weisen mir unmissverständlich meinen Lebensraum zu, in dem ich mich verwirklichen und den ich mitgestalten kann. Zugleich verdanken wir ihnen das Bewusstsein eines Darüberhinaus. Sie halten die Sehnsucht am Leben, und manchmal verleihen sie dem Menschen Flügel, mit denen er alles überwindet.
Sich in der Begegnung gegenseitiger Grenzen und Begrenzungen zu versichern und sie dann partiell durch Konsens gleichsam hinter sich zu lassen, ist eine außerordentliche Chance, den Reichtum des Seins in die eigene und die gemeinsame Existenz zu lassen.

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