Die Geschichte der Zuschreibungen an das, was Melancholie meinen könnte, ist uralt und von immenser Bandbreite. Das meiste klingt dunkel, ja düster, wie es der Wortstamm auch nahelegt. Doch es gibt eine nicht nur unverzichtbare, sondern auch lebenswerte, ja schöne Seite. Und so finden im folgenden Definitionen wie „depressives Krankheitsbild“, „Trübsinn oder Schwermut“, „Versuchung des Teufels“, „Herabsetzung des Selbstwertgefühls“ oder „selbstzerstörerisch“ keine Beachtung. Vielmehr will in all seinen Abstufungen der Feinsinn des Melancholischen betrachtet werden. Große Teile der Weltliteratur, der musikalischen Kompositionen und der Bildenden Kunst wären nicht ohne sie.
Die Verfasstheit der Welt ruft seit jeher eine gewisse Traurigkeit in vielen Menschen hervor; sei es bezogen auf das Sein an sich, die eigenen Lebenswandlungen, jene unstillbare Sehnsucht nach dem Absoluten oder auch eine Melange aus all diesem. Dabei ruht der Ursprung immer im Geistigen, und er hat gewiss etwas mit dem zu tun, was der Religionsphilosoph Romano Guardini als „die Beunruhigung des Menschen durch die Nachbarschaft des Ewigen“ bezeichnete. Vielleicht ist es aber doch weniger eine Beunruhigung, die hier ihren Ausdruck findet, als vielmehr jene Ergriffenheit, die aus einer banalen, in Äußerlichkeiten sich erschöpfenden Gegenwartsorientierung, an die Schwelle führt. Und wer dort einmal geatmet hat, den wird der Geruch des Geheimnisvollen nie mehr verlassen.
Melancholie und Traurigkeit liegen untrennbar beisammen, werden oft ja auch synonym verwendet. Es lohnt sich jedoch, genauer hinzuspüren. Pure Traurigkeit hält den Menschen nieder. Melancholie als Stimmung erhebt sie nahe zum Wohlgefühl, manchmal zum Wohlschmerz.
Während Traurigkeit, gerade wenn ein konkreter Anlass für sie vorliegt, einschneidet, einengt und bedrückt, tupft Melancholie Balsam auf die aufgeraute Seele, nicht selten durch entsprechende Musik.
Traurigkeit fesselt, in der Melancholie kannst du schwimmen und dich treiben lassen. Sie ist mit der Neugier auf das Kommende verbunden und hält deshalb den Kopf über Wasser. Gleichwohl kennt sie bei allem Kommenden auch dessen Schattenseiten, ja ist ihnen in dem Erahnen voran. Das macht sie eher demütig und bescheiden als fordernd und behauptend. Melancholie lässt im Strom der Zeit, im unendlichen Prozess des Werdens und Vergehens innehalten; sie entschleunigt, beruhigt, schenkt Geborgenheit.
Man könnte meinen, dass Melancholie vor alle Wahrnehmung einen Filter legt. Doch es ist eher eine ganz eigene Art wahrzunehmen – vom Tag, ja dem Moment abhängig, lebensweltbezogen und geistig durchdrungen. Sie springt den Menschen nicht unvermittelt an, wie Albert Camus das für das Gefühl der Absurdität konstatiert. Sie schleicht sich still ein, beheimatet sich in der Seele und fließt von dort in deren veräußerlichten Ausdruck, das Gemüt. Manchmal geschieht dies nur als Augenblick, wie beim verzaubernden Sehnsuchtsgesang eines Vogels, der sich gegenüber auf dem Ast des Baumes kurz niedergelassen hat, dich anschaut, um dann seinen Flug fortzusetzen. Diesen Moment jedoch überhaupt wahrnehmen, den gefiederten Gefährten überhaupt sehen und seinen Gesang hören zu können, geht nur aus jener Grundbefindlichkeit heraus, die im Menschen, im Resonanzfeld der Seele ruht.
Manchmal formt sich aus dieser Seelenenergie heraus eine ganze Seinsphase. Als Lebenshaltung legt sie sich dann über das Gemüt, färbt es ein in tiefes Blau und tränkt die Akustik in Moll. Nun ist es kein Aufscheinen mehr. Jetzt hat sich die Melancholie in eine Gestalt begeben, ist zur besten Freundin geworden. Treu und verlässlich begleitet sie dich. Selbst zu anmutig, kann und will sie dem Leben die Schönheit nicht nehmen. Ihr Gang an deiner Seite liegt manchmal vor den Tränen, manchmal dahinter und führt in den Frieden zurück. Kann es echte Freude ohne die Erfahrungshorizonte des Melancholischen geben?
Der Melancholie sind Lebensverachtung, Hass, Wut und alle Spielarten der Aggression fremd. Als Kind der Liebe, das sich lediglich manchmal etwas verlassen vorkommt, ist sie eine stille Verehrerin des Seins. Sie sucht die Harmonie, wenn auch nicht in lauten Tönen und grellen Farben. Ihr Bild von Wirklichkeit ähnelt dem Blick in ein Kaleidoskop – vielfach gebrochen, doch in Ganzheit bunt verbunden; durchleuchtet von einem sanften Strahl aus Sehnsucht und Liebe.
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