Das Selbstverständlichste einer aufgeklärten Kultur verbindet sich mit dem Verstehen – von Menschen, von Strukturen, von Prozessen, von Geschichte. Verstehen kann nicht nur als kulturelles Menschenrecht, sondern auch eine demokratische Menschenpflicht gesehen werden. Öffentlich zugängliche Medien stehen in der bindenden Verantwortung, dieses Gut nicht nur zu schützen, sondern es zu fördern; so werden demokratische Diskurse ermöglicht und am Leben erhalten. Bei politisch kontroversen Themen sieht sich allerdings das Verstehen wollen zunehmend Angriffen ausgesetzt – und zwar gerade aus den Kreisen derer, die es schützen sollten. Will jemand den Motivationen und Handlungsweisen politisch unliebsamer, ja geächteter Personen oder Systeme in ihrer Tiefe nachgehen und sie nachvollziehen, wie etwa bei dem Aggressor Putin, bekommt er den Stempel eines „Putin-Verstehers“. Damit spricht man ihm/ihr gleichsam das Recht ab, weiterhin am öffentlichen/medialen Gespräch teilnehmen zu dürfen. In diesem Sinne gibt es Trump-Versteher, Hamas-Versteher, Höcke-Versteher, Grünen-Versteher etc.
Im April 1961 begann in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator der Judenvernichtung durch Nazi-Deutschland. Die große Philosophin und bekannte Journalistin Hannah Arendt berichtete für „The New Yorker“ von diesem Ereignis. Ihr ging es vor allem darum, zu verstehen, wie das Unfassbare, dieser einzigartige Zivilisationsbruch passieren konnte. Und was für ein Mensch steckt dahinter? Erst Verstehen, und dann Urteilen – so ihr Credo. Überliefert ist ihre Mahnung: „Wenn wir nicht verstehen, wird sich Geschichte wiederholen“.
Was für ein Satz!
Putin verstehen, heißt, neben Beschäftigung mit seiner autokratischen und machtbesessenen Persönlichkeit, viel über die gemeinsame Geschichte von Russland/Sowjetunion und Ukraine zu lernen; etwas zu lernen über jeweils einseitig gedeutete historische Prozesse, aber eben auch die innere Vielfalt solcher Prozesse, die oft in unlösbar scheinende Widersprüche, Ambiguitäten führen und eine entsprechende Ambiguitätstoleranz erforderlich machen – wenn wir „von Außen“ einen Blick darauf werfen.
Putin verstehen meint, die tiefsitzende Kränkung bei ihm zu erkennen, die mit dem Fall der Sowjetunion und der Auflösung des Imperiums sehr wahrscheinlich verbunden war und ist. Mehr noch vielleicht, war es der Zusammenbruch einer politisch-kulturellen Identität.
Es meint, die persönliche Verletzung zu sehen, die passierte, als der Westen seine Zusage brach, die Nato nicht bis an die Grenze Russlands auszuweiten.
Was sich an Putin als dem Leitwolf festmacht, gilt vergleichbar sicherlich für einen großen Teil der russischen Nomenklatura, weshalb das Problem sich einer Individualisierung entzieht.
Solches, und Manches wäre noch zu sehen, will erkannt und berücksichtigt werden. Denn in der großen und kleinen Politik stehen sich zwar in einem oberflächlichen Blick Systeme gegenüber; aber diese werden eben geführt und in Handlung ausgedrückt durch einzelne Menschen. Im konkreten Fall liegt in diesem Verstehen auch ein Schlüssel für Waffenstillstands-, ja irgendwann Friedensverhandlungen.
Es existieren in einer so vielfältigen Welt noch zahlreiche, gleichfalls tief reichende Konfliktlinien mit äußerst bedrohlichen Ambiguitäten. Israel – Palästina wäre zu nennen; aber auch die Verwerfungen etwa zwischen China und dem Westen sowie dem Iran und dem Westen. Denn jeweils handelt es sich um Systeme und Systemrepräsentanten, die in einem kollektivethischen Macht- und Staatsverständnis ruhen. Es ist bei China einmal konfuzianisch, im Iran islamisch begründet. Die in der westlichen Kultur so hoch gehaltenen individuellen Menschenrechte spielen dabei eine nachrangige Rolle. Das muss man nicht gut heißen, aber man sollte es wenigstens verstehen lernen, um sich irgendwann auch gegenseitig besser zu verstehen.
Durchaus vergleichbar gelten diese Ansprüche auch für innenpolitische Vorgänge und Prozesse, wenn wir einmal nur an die staatlich gedeckelte und gegängelte Impfdebatte, Fragen der Migration oder den Umgang mit politischen Randmeinungen denken.
Wer das Verstehen diskriminiert, um die eigene Meinungshoheit zu festigen – fährt eine (Medien)Politik und einen sogenannten Journalismus, die entmündigen, indem sie Diskurse verengen.
Es gibt keine verantwortliche Politik und keinen anspruchsvollen Meinungs-Journalismus, die nicht das Grundgesetz der Empathie verinnerlicht haben. Empathie meint in diesem Zusammenhang: Vom Anderen, auch vom anderen System her lernen zu denken und zu empfinden, ohne dass es zum eigenen wird. Es geht also um jene hochkomplexe Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz – jener Nähe, die Voraussetzung ist für das Verstehen, und jener Distanz, die verhindert, dass es zu geistigen Übersprungsvorgängen kommt. Solches Verstehen hat nichts mit Rechtfertigung zu tun.
Selbst wenn es unappetitlich oder verachtenswert scheint: Wir müssen die Welt verstehen lernen. Immer ein bisschen mehr. Denn was es zu verstehen gilt, ist ja etwas, das im Menschen und der Menschheit lebt. Und was da ist, will gesehen werden. Alles Andere wäre nur das Spiegelbild einer gescheiterten und weiter scheiternden Aufklärung. Unweigerlich führte es Schritt um Schritt in einen zunehmend autoritären Staat.
Wieder einmal…..
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