Die großen Schriften, epochale Werke der Philosophie aber auch die „heilig“ genannten, verlieren fortschreitend an Bedeutung – spiegelbildlich zum Auftrieb eines zersplitterten Informationsuniversums, das diffuse Aufmerksamkeit wie ein schwarzes Loch in sich hineinsaugt. Man spricht zwar noch vom christlichen Abendland und einer aufgeklärten, hoch geistigen Kultur. Der Transfer jedoch vom geistigen Fundament in die sogenannte gesellschaftliche Realexistenz ist gebrochen, wenn er denn jemals existierte. Geist, Erkennen, Verstehen und aus diesem heraus handeln, sehen sich auf eine Weise voneinander entfremdet, die etwas Unversöhnliches ausstrahlt. Wir hören dann, dass vom Elfenbeinturm herab genau so wenig Politik gemacht werden könne wie mit der Bergpredigt. Solches kann voller Überzeugung sagen, wer sich das Verstehen der Schriften fahrlässig oder gar willentlich versagt hat bzw. sie grundsätzlich missachtet.
Was meint in diesem Kontext aber überhaupt „verstehen“?
Die Frage will angeschaut werden, denn sie ist nicht frei von Zumutungen.
Das zu Worten geformte Überzeitliche und Erhabene und damit Befugte kann nur verstehen, wer sich darauf einzulassen voll und ganz bereit ist. Bloßes Interesse genügt nicht, Nötigung noch weniger. Man braucht Neugier, hinter der eine Sehnsucht „lauert“; Sehnsucht danach, das Wahre und damit Lebensdienliche zu spüren, ja sich davon berühren zu lassen. Das spricht die Haltung an, mit der ich an solche Texte herangehe. Um entsprechend die Bibel zu verstehen, meint nicht „Theologie“; die Ethik des Aristoteles zu verstehen, nicht abstrakt Philosophieren; die Lebensethik Albert Schweitzers zu verstehen, nicht bloß einen Text zu studieren. Das Herz muss dabei sein und das, was wir suchende und sich orientierende Liebe nennen können.
Wer das aus dem Feld des Geistigen stammende Wort in seiner Tiefe hören und verstehen möchte, benötigt selber Tiefe – offen und zugewandt. In Resonanz kann man nur gehen, wenn das Instrument der Seele und der aufnehmende Geist entsprechend gestimmt sind. Das ist nur unwesentlich anders als beim Hören einer Sinfonie, dem Lauschen auf den Gesang der Nachtigall oder auf den Klang der Quelle.
Vielleicht ist es ein wenig viel verlangt, was Athanasius (um 298 – 373) anmahnt: „Um die Heilige Schrift zu verstehen, muss einer einen rechtschaffenen Lebenswandel führen, mit reinem Herzen…“. Doch dieser äußerst hoch gesetzte Anspruch weist auf etwas Wesentliches hin: Nur ihm Ähnliches vermag das Ersehnte zu erspüren und den Sinn zu durchdringen, bei aller Unvollkommenheit auf dem Weg. Es gibt keine wahre Liebe zur Weisheit (philia und sophia) und keine verschmelzende Verinnerlichung der Schrift, wenn sich das nicht im eigenen Leben und Verhalten spiegelt – sei es auch noch so unzulänglich.
Wer sich überzeitlichen Meistertexten in der entsprechenden Haltung und einem entsprechend offenen, aber gerichteten Geist zuwendet, wird empfangen. So lautet das Versprechen im Evangelium des Matthäus: „Wer anklopft, dem wird aufgetan“.
Auftun meint dann ein Doppeltes. Der Lesende und sich Zuwendende empfängt; zugleich wird, was sich in Buchstaben gefangen sieht, ins Leben hin befreit. Diese Texte zu verstehen suchen, sich berührt sehen und entsprechend verhalten, bedeutet somit eben auch, die als Schrift geronnenen Propheten fortwährend neu ins Leben zu entlassen. Der Lesende stellt sich damit in den Dienst der Heilsgeschichte. Er führt die Linie einer Tradierung des besonderen Wortes fort und bewahrt es durch seine Treue vor dem Vergessen. Zugleich dient er sich und seiner Existenz in höchster Weise. Diese bewahrt ihn davor, an dem Zweck des eigenen Daseins vorbei zu leben.
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