Abenddämmerung, oder: „Zur Heimat erkor ich mir die Liebe“

ClausAllgemein

Dieses Geständnis der Poetin Mascha Kaléko kann heute, inmitten des Zusammenbruchs ethischer Selbstverständlichkeiten, als Basissatz der Menschwerdung gesehen werden.

Mit dem Wort Heimat drückt sich eine gewachsene Haltung dem Leben gegenüber aus, genau wie Liebe erst ihre Fruchtbarkeit erreicht, wenn sie zur Haltung gereift ist. Dann vermag sie sich weit über sentimentale Engführungen hinaus zu dehnen – was nicht als diskriminierende Aussage über Sentimentalität missverstanden werden sollte. Zeigt sie doch so viel von der uns möglichen Tiefe und von der Intensität, die als Gefühlsraum in uns lebt. Zugleich allerdings versteht sie es, unsere Wahrnehmung und geistigen Regungen auf schmaler Bahn zu lenken. Das Ganze, der übergeordnete Blick aus zeitfreier Perspektive geht verloren, und alle Deutung der Welt unterliegt einem Gefühl des Augenblicks.

Als Haltung führt Liebe stattdessen in den weiten Raum, der zum Innehalten und Durchatmen einlädt und den wir Heimat nennen. Hier verströmt sie sich, lädt zur Orientierung und Zuwendung ein. Dieser Raum ist offen, eine stetige Einladung. Denn Liebe grenzt nicht aus. So wandern wir als Heimatbewegung täglich neu in das Leben hinein.

So weit das Ideal.
Und die Wirklichkeit?

Schauen wir auf ein bekanntes und eigentlich immer hochaktuelles Beispiel – das Desaster in Nahost. Es soll nicht noch einmal durchdekliniert werden, was Ursache und Wirkungen, Terror und Vergeltung betrifft. Festzuhalten bleibt, dass trotz aller mahnend sich erhebenden und so unfassbar schmerzhaften Erfahrungen in der Geschichte hier abermals ein grauenhafter Zivilisationsbruch auf allen militärisch aktiv beteiligten Seiten stattfindet. Gelingt es der Völkergemeinschaft, was schon an ein Wunder grenzte, zunächst einen dauerhaften Waffenstillstand durchzusetzen und diesen militärisch zu kontrollieren, kann es langfristig nur einen Weg aus dem Verhängnis geben. Er heißt liebende Koexistenz in einer Heimatempfindung, die sich nicht an regionalen, kulturellen oder religiösen Grenzen orientiert.

Doch welche Schritte liegen vor einem solchen Fanal aus der Zukunft?

Man kann die Situation durchaus mit der Beziehung des Menschen zu Mutter Erde und zu unseren Geschwistern in Fauna und Flora vergleichen. Wenn wir uns nicht, als von Liebe zu allem Leben durchströmt, existentiell zu diesem Leben und seinen Bedürfnissen hin orientieren und uns entsprechend wandeln, haben wir als Menschheit keinerlei Überlebenschance. Wenn die im Nahen Osten lebenden Menschen, sich nicht in liebender Akzeptanz begegnen lernen, wird es bald keinen Lebensraum Israel und keinen Lebensraum Palästina mehr geben. Die gegenseitigen Formen kriegerischer Barbarei, basierend auf dem dämonischen Gesetz von Rache und Vergeltung, sind ein permanenter Beitrag auch zur Selbstvernichtung. Und, was  als besonders beschämend empfunden werden kann: Sie sind ein weiterer Schlag ins Gesicht dessen, was die Menschheit sich im Prozess der Aufklärung als Vernunft, Rationalität und Menschenrechte erkämpft hat.

Liebe allerdings lässt sich bekanntlich nicht zwingen. Dies gilt schon gar nicht in hass- und angsterfüllten kulturellen und religiösen Bewusstseinsfeldern, die über viele Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte, aus unterschiedlichsten Gründen gewachsen sind und sich kontinuierlich weiter aufladen.

Albert Schweitzer hat darauf hingewiesen, dass einer dem Leben zugewandten, auf Liebe basierenden Ethik immer etwas Wesentliches vorausgeht:
Das Notwendige muss denkend erkannt werden.

Der eingeschlagene Weg der Selbstvernichtung und die daraus folgenden unumgänglichen Konsequenzen sollten also gesehen und tiefenkulturell verstanden werden. Nüchternheit und ein metaperspektivischer Blick sind in solchen Situationen grundlegender Konflikte unersetzbar. Trotz aller Verletzung und trotz aller Traumata. Nur das kann den Weg öffnen für Empathie, für Zuhören und ein anschließendes Verstehen, in dem das Ich sich im Du wiedererkennt. Noch einmal: das Ich sich im Du erkennt, mit seinen existentiellen Bedürfnissen. Sich sodann mit offenen Armen zu begegnen, bereit zu sein, Ansprüche aufzugeben und sich zu verbrüdern und zu vermischen, muss nun keine Utopie mehr bleiben. So kann der Sprung über den evolutionären Schatten gelingen und Menschen, ja die Menschheit auf eine höhere Spiralebene der Evolution leiten. Es ist jene Ebene, von der wir als Heimat im umfassenden Sinne sprechen können. Äußere Heimat, die getragen und genährt wird von der inneren Heimat, die sich in Liebe allem Leben zuwendet. Das meint dann auch, dass  wir in der höchsten und edelsten Form der Selbstliebe angelangt sind. Jener Selbstliebe also, die sich als Teil des universalen Ganzen nicht nur erkennt und versteht, sondern empfindet. Das Selbst als Nukleus des Seins an sich!

Nur Appelle an die Liebes- und Versöhnungskraft des Menschen werden weiterhin folgenlos bleiben. Dazu sind wir zu Ich-zentriert und zu sehr in den eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen eingekerkert – als Personen, als Gruppen, als Völker und Nationen, als Menschheit. Deshalb wird uns Heimat in umfassender Liebe gewiss nicht einfach so gegenübertreten. Vielmehr markiert sie den übernächsten Schritt jenseits einer gewaltigen Grenze der Beharrung, die es zu überwinden gilt. Das will denkend, verstehend und Notwendigkeiten folgend vorbereitet sein! Und Solches liegt durchaus in unserer Verfügung! Es mag lediglich sein, dass der Leidensdruck der Menschheitsfamilie in diesem historischen Moment immer noch nicht groß genug für die entsprechenden Schritte ist bzw. der Panzer namens Ego noch immer zu stabil und undurchlässig, was eine Berührung durch den Schrei des Lebens anbelangt.

Man mag solche Gedanken als Elfenbeinturmillusionen eines Träumers hinweglächeln. Zumindest aber sollte dann verstehend die Frage geklärt sein, warum es sich noch immer um eine Illusion handelt und nicht selbstverständliche Realpolitik.

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