Von „Kairos“ wird gesprochen, wenn das Leben sich in eine Entscheidungszeit bewegt und das Schicksal gleichsam Gelegenheiten öffnet, in angemessener Weise zu handeln.
Kairos-Zeit kann Heilszeit sein, ein Gnadenakt auch, im Kleinen wie im Großen. Das ist die gängige Lesart. Grundsätzlich aber öffnet sie zunächst „lediglich“ einen Optionsraum, der von unterschiedlichen Kräften bzw. Energien genutzt werden kann. Kairos zeigt so immer wieder seine Ambivalenz. Durchaus vermag demnach eine Energie der Destruktion den offenen Raum und damit das Momentum zu nutzen. Kairos wird dann zu einem Fenster der Verwundbarkeit. Um dem entgegen zu wirken, braucht es eine dauerhaft im personalen und/oder dem kollektiven Bewusstsein lebende Grundentschiedenheit, um bereit zu sein, wenn das Momentum sich zeigt; bereit zu sein, um es in Klarheit und ohne Zögern zu gestalten.
Es hätte Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts einer gewaltigen gemeinsamen Kraftanstrengung aller Deutschen bedurft, die konservativ, bürgerlich, liberal, sozialdemokratisch oder sozialistisch dachten und empfanden. Ganz zu schweigen von Jenen, die sich als christlich sahen bzw. ausgaben. Nur dann wäre es möglich gewesen, die nationalsozialistische Flut einzudämmen, zu schwächen und sie von der Machtübernahme fernzuhalten. Gelegenheiten dazu gab es genug. Die Tür für einen demokratischen und versöhnenden Kairos im Feld der Potentialität war noch geöffnet, das Feld jedoch schließlich von dunklen Energien besetzt. Vorbereitet und entschlossen nutzten diese ihre Chancen.
Zahllose Zeichen und Ereignisse hatten unmissverständlich auf die Verdunkelung des Horizonts hingewiesen. Kündigt sich ein großer Umschwung bzw. ein epochaler Wandel, gleich auch in welche Richtung, doch immer durch vorbereitende „kleinere“ Kairoi der selben Wesenheit an.
Diese historische Tragödie namens NS-Terror lehrt unmissverständlich, dass Kairos-Energie nicht per se mit Lichtenergie gleichgesetzt werden darf. Und auch dies gilt im Großen, Politischen bzw. Kulturellen, wie im kleinen, dem persönlichen Menschenschicksal.
Die Gegenwart bewegt sich inmitten eines noch gewaltigeren Kairos-Moments. Er ist nicht politisch und nicht kulturell in einem engeren Sinne. Auch beschränkt er sich nicht auf einzelne Nationen und bestimmte Menschengruppen. Er gibt sich als terran, zutiefst existentiell und alles Leben betreffend zu erkennen. Den Großteil der Menschen konfrontiert er grundlegend mit der Art und Weise wie sie leben und vor allem wie sie konsumieren. Es geht dabei um nicht mehr und nicht weniger als die Infragestellung des materiellen Selbst- und des auf Besitz und Konsum gründenden Herrschaftsverständnisses hinsichtlich Mutter Erde. Klimakrise, Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und Bedrohung der Artenvielfalt sind die euphemistischen, verharmlosenden Bezeichnungen dafür.
Sich sorgende, warnende und hilfreich hinweisende Stimmen gab und gibt es genug – genau wie pragmatische Zeichen der Neubesinnung, der Umkehr bzw. Korrektur. Doch es scheint auch diesmal wieder so, dass Wissen und Einsicht nicht reichen. Lähmendes Sich-Verweigern verklebt eine Bewusstseinskultur, die zur Handlung drängt. Verleugnung und Verdrängung kommen hinzu, begleitet von Hass und Hetze gegenüber den auf Gegensteuerung bedachten Menschen und Organisationen. Keine noch so große Katastrophe vermochte daran bislang etwas zu ändern. Kurzfristigster Eigennutz konditioniert das Tun; und vom Tun her dann wiederum das Denken und umgekehrt. Hier verdeutlich sich, warum die siebte der Todsünden, die Trägheit des Geistes, Acedia genannt, als die schrecklichste bezeichnet werden muss. Während ein verheerender Krieg gegen das Leben den Planeten überzieht und ihn verwüstet, lenken das Volk und seine Führung sich ab und führen zugleich aufgeregt politische Nonsens-Debatten. Das Haus brennt, doch die Serie im Fernsehen ist gerade viel zu spannend, um vom Sofa aufzustehen.
Die jüngste Weltklimakonferenz, mittlerweile die 29., ist das erschreckende Beispiel dafür, wie sehr dominierende Teile der Weltgemeinschaft den epochalen und globalen Kairos verkennen bzw. missachten. Das Fenster für steuernde und nachhaltige Korrekturen hat sich bereits fast vollständig geschlossen. Der Optionsraum bietet nur noch Strategien zur Folgenabmilderung.
Ähnlich bei der seit Jahrzehnten beklagten Artenvernichtung durch den Menschen. Sie hat mittlerweile eine Dimension erreicht, dass vom größten Massensterben auf unserem Planeten seit 66 Millionen Jahren gesprochen werden muss. Alle Gründe sind bekannt. Und täglich sterben weiter ca. 150 Lebensformen, Tiere und Pflanzen, aus.
Die überall sich immer noch anbietenden kleinen Kairoi als Umkehr- und Rettungsmomente in eng begrenztem Rahmen werden durchaus von einzelnen Menschen und Menschengruppen wahrgenommen. Sie führen zwar nicht zu grundlegenden Interventionen in unser Verhalten. Im Feld der vom Menschen insgesamt freigesetzten Energien dominiert die Farbe schwarz. Gerade deshalb aber ist die Wahrnehmung der kleinen Kairos-Momente wider alle große Erfolgserwartung so wertvoll und vollkommen unverzichtbar. Streuen sie doch bunte Leuchtpunkte in den düsteren Himmel. Vielleicht vermögen sie den Kommenden etwas Orientierung zu geben und sie daran zu erinnern und dafür zu ermutigen, dass aus dem Ergreifen und Gestalten unzähliger kleinster Kairoi eines Tages ein großer Kairos der Heilung und Neuorientierung erstehen kann. Nur so wird es gehen. Denn keine göttliche Intervention kann den Ablauf der Geschehnisse mehr ändern. Folgen diese doch den Ursprungs-Regeln von Ursache und Wirkung und darauf bezogener unwandelbarer Naturgesetze.
Jedes kleine Stück Boden, das wir heilen bzw. dem Zugriff von Vergiftung und Versteinerung vorenthalten; jeder wieder etwas sauberere kleine Bachlauf; jeder Insektenblütenstrauch und jede nur mit höchstem Bedacht getroffene Konsumentscheidung lenken die Kairosenergie potentiell zum Segenhaften.
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